Innen und aussen

von Christoph Reichenau 2. September 2021

Die Neuausgabe eines wichtigen Buchs über den «König der Spaziergänger», das Eintauchen ins Appenzellische und das beiläufige Entdecken eines überwältigenden Wandbildes beim Verlassen des Robert Walser-Zentrums in der Berner Marktgasse – viel grosse Kunst auf engstem Raum. Entdecken.

Man öffnet die Türe und steht im Appenzellerland, Ausserrhoden, Blick auf Herisau. Über drei Wände des Raums zieht sich die gestochen scharfe Fotografie von Dominique Uldry. In der Mitte des Panoramabildes erkennt man das Häuserensemble der Heil- und Pflegeanstalt, in der Robert Walser von 1933 bis 1956 lebte. Am oberen Rand des Foto zu sehen ist der Weg zum Waldrand, wo Walser an einem Herzschlag starb an Weihnachten 1956 auf einer Wanderung.

Wanderungen mit Robert Walser

Wanderung, das verbinden wir mit Robert Walser, von seinem «streifenden Leben» schreibt Elias Canetti. «Der Spaziergang», eines von Walsers Hauptbüchlein, erschien 1917. Vierzig Jahre später gab Carl Seelig, Vormund und Vertrauter, die «Wanderungen mit Robert Walser» heraus.

Die Wanderungen gingen von Herisau aus und konnten viele Stunden dauern. Walser ging im Dreiteiler mit Krawatte, glänzend geputzten Schuhen, Hut und Schirm. Die beiden kehrten gern ein, assen üppig, tranken in guten Wirtschaften. Seelig zeichnete die Gespräche auf. Eine Walser-Passage: «So habe ich mein eigenes Leben gelebt, an der Peripherie der bürgerlichen Existenzen, und war es nicht gut so? Hat meine Welt nicht auch das Recht, zu existieren, obwohl es scheinbar eine ärmere, machtlose Welt ist?»

Vom Verfertigen der Gedanken beim Wandern, darum geht es in Seeligs Buch, das in vielen Auflagen erschien, zuerst bei Tschudy in St. Gallen, ab 1977 bei Suhrkamp. Bei der Wiederentdeckung des Schriftstellers Robert Walser, die in den 1960-er Jahren mit der Gesamtausgabe im Verlag Kossodo und der dokumentarischen Biographie Robert Mächlers einsetzte, spielte das Buch eine gewisse Rolle. Das Robert Walser-Zentrum in Bern hat eine erweiterte Neuausgabe vorbereitet, die im Suhrkamp-Verlag erschienen ist.

Das Ich-Buch

Man lernt darin den Schriftsteller oder den Dichter kennen, der von sich sagte:

Ich weiss, dass ich eine Art handwerklicher Romancier bin. (…) Bin ich gut aufgelegt, d.h. bei guter Laune, so schneidere, schustere, schmiede, hoble, klopfe, hämmere oder nagle ich Zeilen zusammen, deren Inhalt man sofort versteht. Man kann mich, falls man Lust hiezu hat, einen schriftstellernden Drechsler nennen. Indem ich schreibe, tapeziere ich. Dass mich einige freundliche Menschen für einen Dichter meinen halten zu dürfen, lasse ich mir aus Nachgiebigkeit und Höflichkeit gefallen. (…) Für mich sind die Sätze, die ich dann und wann hervorbringe, kleinere oder umfangreichere Romankapitel. Der Roman, woran ich weiter und weiter schreibe, bleibt immer derselbe und dürfte als ein mannigfach zerschnittenes oder zertrenntes Ich-Buch bezeichnet werden können.

Im Ausstellungsraum trägt ein Tisch die grosse Platte mit einem Relief aus Buchenholz. Das von der Fachhochschule in Biel geschaffene Modell bildet den Perimeter der Wanderungen ab vom Säntis zum Bodensee, in der Mitte Herisau. Es ist ein Gemeinschaftswerk der digitalen Kartographie, des vom Computer unterstützten Designs, der Holzbearbeitung, eine wunderschöne Plastik. Und eine Information: Wanderungen tönt harmlos, es waren in Wirklichkeit Märsche.

Auf der Website des Walser-Zentrums kann man die Routen nachvollziehen. Allerdings: Viele Wege verlaufen heute anders, Manches ist verbaut, der Verkehr hat in 70 Jahren massiv zugenommen.

Das Wandgemälde

Verlässt man die wunderbar nicht-wander-gemässe und doch so stimmige Installation im Robert Walser-Zentrum, tritt man in die Marktgasse zurück. Unmittelbar rechts endet die riesige Collage der Zürcher Textildesignerin Annina Arter, ein Panorama auch sie, mit botanischen und zoologischen Illustrationen, Scherenschnitten und Fotos, teils Aquarium, teils Terrarium, teils Sehnsuchtsort. Das Werk wirkt wie eine Nachempfindung des burgundischen Tausendblumenteppichs im Historischen Museum. Es bildet die Baustellenwand für die Umgestaltung des Kaiserhauses. Während der Bauzeit werden weitere Werke folgen.

Eine schöne Idee. Bei jedem Besuch findet man etwas, das man zuvor übersehen hat. Es lohnt sich, langsam daran entlang zu flanieren. Grosse Kunst ist auch ausserhalb des Museums zu entdecken.

Das Wandemälde Annina Arters (Foto: Christoph Reichenau)

 

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Eröffnung am 3. September, 13-20 Uhr.
Öffnungszeiten ab 4. September:
Mittwoch bis Freitag 13-17 Uhr.
Robert Walser-Zentrum, Marktgasse 45, Bern.

Von 17-20 Uhr findet am 3. September zudem in der Galerie da Mihi die künstlerische Intervention «Dä Vertschaupete vorläse» von Tiziana de Silvestro statt. Um Schang Hutters Skulptur «Vertschaupet» auf dem Bahnhofplatz Biel baute im Sommer 2019 Thomas Hirschhorn die «Robert-Walser-Sculpture» auf und ständig um.  

Carl Seelig: Wanderungen mit Robert Walser. Hg. Von Lukas Gloor, Reto Sorg und Peter Utz. Berlin: Suhrkamp Verlag 2021 (Bibliothek Suhrkamp; 1521).