«Es schlagen zwei Herzen in meiner Brust. Das Herz des Künstlers und Musikers sowie jenes des Pädagogen», sagt Christoph Marti, Dirigent des Berner Gemischten Chores, Musiklehrer und Co-Leiter des Chors des Gymnasiums Neufeld mit ratlosem Lächeln, das einen Hauch Verbitterung erahnen lässt. Er ist nicht bereit, den Musiker dem Lehrmeister zu opfern und sich mit weniger zufriedenzugeben als der «möglichen Perfektion». Sein Platz zwischen kompromisslosem Drang nach befreitem Kunstschaffen und tagtäglichem Arbeiten unter sich verändernden Vorzeichen ist genussvoll und bisweilen beklemmend unwirtlich.
In der Familienwohnung in der Berner Altstadt, in einer hellen und geräumigen Stube, empfängt Christoph Marti Journal B zum Gespräch. Mit einem schwarzen Flügel und einem Notenständer neben einem schmalen Büchergestell, einer Sitzgruppe mit Glastischchen und sonst nicht weiter vielen Möbeln bietet der nüchterne Raum den äusseren Rahmen für Gedanken und innere Bilder. Ans Leben neben der Reflexion erinnert ein ordentlich hergemachter Kinderschreibtisch seiner jüngeren Tochter, darüber hängt eine Leiste mit Fotoautomatenbildern von Marti und seiner Familie.
In einer Mischung aus nüchterner Zurückhaltung und gleichzeitigem kompromisslosem Enthusiasmus erzählt er von seinem Werdegang als Musiker und Lehrer, vom Drang nach künstlerischem Schaffen und der Lust an der intellektuellen Auseinandersetzung, von der Ernüchterung über das «Nicht-Verstehen-Wollen» mancher Schülerinnen und Schülern, Sängerinnen und Sängern und davon, was ihn trotzdem antreibt, Pädagoge zu bleiben.
Christoph Marti:
«Bin ich Künstler oder Pädagoge? Dem Musiklehrer fehlen fürs eigene Musizieren oder gar Komponieren in aller Regel die Zeit und der innere Raum. Komme ich als Lehrer vielleicht musikalisch zu kurz? Ist der Pädagoge in mir stark genug, den Mangel zu ertragen?
«Ich spiele dann nicht für eine Aufführung und ohne Ziel, ich mache Musik um der Musik Willen. Es ist das Beste, was ich auf meinem Instru- ment je gemacht habe.»
Christoph Marti, Dirigent Berner Gemischter Chor und Musiklehrer am Gymnasium Neufeld
Die Lücke versuche ich mit meinem Geigenspiel zu füllen. Jeden Morgen ziehe ich mich für eine halbe Stunde zurück, um Geige zu üben. Nach meinem Rücktritt aus dem Berner Kammerorchester wollte ich mir das Geige spielen unbedingt erhalten. Wenn ich es heute ausnahmsweise nicht schaffe, meine morgendliche halbe Stunde der Geige zu widmen, fehlt es dem Tag an etwas Essenziellem. Immer wenn ich spiele, ist das ein Weg zu mir selber zu finden. Ich spüre, wie es mir geht, ob es ein Tag ist, an dem alles möglich ist oder nichts gelingen möchte. Und ich spiele dann nicht für eine Aufführung und ohne Ziel, ich mache Musik um der Musik Willen. Es ist das Beste, was ich auf meinem Instrument je gemacht habe.»
«Kunst ist Genuss ohne Schaden»
«Chorsängerinnen und -sänger, ob am Gymnasium oder im Berner Gemischten Chor, wollen in erster Linie singen und daran ihren Spass haben. Diese Einstellung kann ich nicht nachvollziehen. Dass dafür allerdings musikalische Kunstwerke herhalten müssen, bleibt für mich fragwürdig. Mich interessiert es nicht, mich wöchentlich mit einer Gruppe zu treffen, um einfach ein wenig zu singen. Dafür bin ich zu sehr Musiker. Ich bringe Werke nicht zur einfachen Unterhaltung zur Aufführung. Die Problematiken, die in jedem Werk vorkommen, will ich bearbeiten – und sie wenn möglich einer künstlerisch brauchbaren Lösung annähern. Und ich muss ‹chrampfen› dabei, das entspricht meinem Naturell. Und rührt vielleicht auch von meiner christlichen und strengen Erziehung her. Ich habe gelernt, dass man ringen und schwitzen muss, wenn man auf einem Gipfel ankommen und die Aussicht geniessen will.
Die Kunst ist ein Weg zu geniessen, ohne dabei gleichzeitig Schaden anzurichten. Wenn ich in die Ferien fahre, zerstöre ich die Umwelt, wenn ich in einem Restaurant essen gehe, nehme ich jemandem die Nahrung weg. Kunstgenuss bleibt ohne faden Nachgeschmack. Diese Form des Geniessens koste ich gerne aus. Ich bin kein solcher Schwerenöter, wie ihn manche in mir sehen wollen. Ich stelle einfach meinen Verstand nicht ab – und neige durchaus zur Askese: Eine Geige, Bücher – und ein paar liebe Menschen – genügen mir zu einem zufriedenen Leben.»
«Durchgeschüttelt von der ‹vollen Dröhnung›»
«Aufgewachsen bin ich in Grossaffoltern. Meine Mutter war Organistin und mein Vater hat mich in Blockflöte unterrichtet. Mit zehn Jahren habe ich angefangen Geige zu spielen, und in der Sekundarschule nahm ich Latein.
«Als ich, das Land- kind, nach Bern kam, hat mich das richtig durch- geschüttelt.»
Christoph Marti, Dirigent Berner Gemischter Chor und Musiklehrer am Gymnasium Neufeld
Das Interesse am Intellektuellen oder gar am Künstlerischen war in meinem Umfeld unter Jugendlichen alles andere als üblich. In der ländlich geprägten Dorfgemeinschaft habe ich mich deshalb oft als Fremdling gefühlt. Als ich, das Landkind, schliesslich nach Bern ans Gymnasium Neufeld kam, hat mich das aber auf eine andere Art richtig durchgeschüttelt. In der Stadt traf ich auf eine ganz andere Welt. Es waren die 68er-Jahre, es gab Rock ‘n’ Roll, LSD und Hasch. Diese ‹volle Dröhnung› hat mich als junger Bub, der ich war, aufgewühlt. Ich kannte bis anhin ja nur die heile Welt auf dem Land.
Mein Musiklehrer Adolf Burkhardt, der im Gymnasium auch den Chor und das Orchester gegründet und während Jahrzehnten geleitet hatte, förderte mich, ohne dass ich das erst gemerkt hätte. Am Ende der Gymerzeit war ich Konzertmeister – quasi meine erste musikalische Karriere.»
«Erster ausgebildeter Gym-Musiklehrer des Kantons»
«Nach der Matura wollte ich Mathematik oder Musik studieren, interessiert hätte mich noch vieles mehr. Ich erwarb schliesslich am Konservatorium für Musik in Bern das Lehrdiplom für Violine und absolvierte an der Universität Bern den neu eingerichteten Studiengang für das Diplom als Musiklehrer an Höheren Mittelschulen. Ich war damit im Kanton Bern der erste – sozusagen in einem Pilotversuch – ausgebildete Musiklehrer fürs Gymnasium und dadurch auf einmal der einzig wählbare Kandidat für eine frei werdende Stelle als Musiklehrer am Gymnasium Neufeld. Burkhardt hatte das wohl ganz geschickt so eingefädelt. Das war mir damals aber nicht bewusst.»
«Bach-Kantate oder Buurebüebli?»
«Die damalige Weichenstellung stimmt für mich nach wie vor. Damals, gewiss mehr als heute, war die Mittelschule Ort der intellektuellen Auseinandersetzung und Vorbereitung auf die Universität von hauptsächlich vorgebildeten, kulturell geprägten und interessierten Jugendlichen. Ich arbeite gerne mit Intellektuellen zusammen. Ich wollte immer schon verstehen, was ich mache und wünsche mir das auch von den Schülerinnen und Schülern. Denn sonst spielt es letztendlich keine Rolle, ob wir eine Bach-Kantate oder das Buurebüebli singen.
«Die Schülerinnen und Schüler wissen zwar oft nicht, was genau sie musikalisch tun, weil es sie wenig kümmert, und trotzdem ver- ändert sie die Er- fahrung, es ge- macht zu haben.»
Christoph Marti, Dirigent Berner Gemischter Chor und Musiklehrer am Gymnasium Neufeld
Unterdessen ist die Situation vielleicht etwas anders geworden. Es ist längst nicht mehr in jedem Fall intellektuelle Neugier, die junge Menschen eine gymnasiale Ausbildung wählen lässt, sondern die für manchen Berufsweg unabdingbare Notwendigkeit, eine Matura zu erwerben. Ich rette mich je länger je mehr mit der Hoffnung auf die ‹rechte Gehirnhälfte› über die Ernüchterung hinweg, dass es mit dem Verstehen-Wollen (von Musik) auch an einer Mittelschule manchmal nicht mehr allzu weit her ist: Ich spüre die grosse Lust der Jugendlichen, Klänge zu produzieren, sie singen klassische und, ja, wegen ihrer besonderen Schönheit auch geistliche Werke, nach wie vor gerne. Und sie wollen in erster Linie Spass am Singen haben. Auf einer unbewussten, musisch-emotionalen Ebene läuft aber noch mehr ab. Die Schülerinnen und Schüler wissen zwar oft nicht, was genau sie musikalisch tun, weil es sie wenig kümmert, und trotzdem verändert sie die Erfahrung, es gemacht zu haben. Deshalb ist es wichtig, dass sie nicht nur mit ihrer eigenen Musik oder einfachen Liedern konfrontiert werden, sondern auch die Möglichkeiten haben, anspruchsvollste Werke mitzugestalten. Weil es sie letztendlich, auch unabhängig von der theoretischen Auseinandersetzung damit, positiv beeinflusst.
Grundsätzlich vermisse ich bei vielen Menschen die Neugierde, musikalisch Neues auszuprobieren. Bei den Chorsängern wie beim Berner Publikum. Von den beliebten und vielfach aufgeführten Chorwerken wie etwa der ‹Schöpfung› von Joseph Haydn oder dem ‹Elias› von Felix Mendelssohn Bartholdy gibt es längst zahlreiche Aufnahmen, an deren Qualität wir ohnehin nicht herankämen. Da mache ich mir nichts vor. Auf den Eiger, den Mönch und die Jungfrau schaffen wir es nicht, weil wir weder am Gymer noch beim Gemischten Chor dazu ausgebildet und trainiert sind. Aber es gibt auch noch das Guggershörnli, den Wildstrubel und viele andere schöne Gipfel zu erklimmen.»
«Ich schreibe für die Schublade»
«Ich verspüre ein starkes Drängen zum künstlerischen Schaffen. Ich verfasse Gedichte, die ich in schmale rote Bände schreibe, die ich Seite an Seite in das Regal zurückstelle und niemandem zeige. Ich schreibe ‹für die Schublade›, so wie es Hans Erich Nossack auch lange getan hat. Seit meiner Zeit als Gymnasiast faszinieren mich die Werke des deutschen Schriftstellers, dessen Leben 1943 durch einen Bombenangriff auf Hamburg aus allen Fugen gerissen worden war. Ich habe alles von ihm und über ihn gelesen. Es ist seine stille und gescheite Art zu schreiben, die mir entspricht. Seine Werke handeln vom ‹Aufbruch ins Unversicherbare› und basieren darauf, dass er aufgrund des erfahrenen Unglücks gezwungen war, einen Neuanfang zu machen. Und sie zeugen von der Erfahrung, dass nichts sicher ist und alles in einem einzigen Augenblick zerstört werden kann. Als Nossack 1977 verstarb, berührte mich das unerwartet stark. Ich wusste, dass ich es verpasst hatte, ihn jemals persönlich zu treffen.»
«Sie haben an meinem Stück gelitten»
«Vor Jahren habe ich auch angefangen zu komponieren. Damals war ich noch Dirigent beim Langnauer Kirchenchor, und es stand ein grosses Jubiläum an. Ich schlug vor, den Anlass mit der Uraufführung eines eigenen Werks zu krönen, warnte den Chor, dass die Musik ihnen wahrscheinlich nicht auf Anhieb gefallen werde, ging in Klausur und schrieb das Stück. Die Sängerinnen und Sänger des Chors haben sich daran die Zähne ausgebissen und gelitten. Wie sehr sie gekämpft hatten, wurde mir bewusst, als mir ein Sänger nach der Aufführung sagte, dass man ‹in solchen Situationen halt einfach zusammenstehen müsse›.
Ich bezeichne mich selber ungerne als Komponist. Denn mit dem Komponieren verhält es sich wie mit dem Gedichte schreiben und mit dem Lehrersein: Man macht es ganz oder gar nicht.
«Mit dem Komponieren verhält es sich wie mit dem Gedichte schreiben und mit dem Lehrersein: Man macht es ganz oder gar nicht.»
Christoph Marti, Dirigent Berner Gemischter Chor und Musiklehrer am Gymnasium Neufeld
Entweder grübelt man über seinen Gedichtzeilen oder Notenfolgen und geht gänzlich darin auf, so dass nichts nebenbei mehr Platz hat, entweder ist man zu 100 Prozent da als Musiklehrer, oder man lässt es sein. In der Kunst gibt es keine halben Pensen. Ich habe auch schon derart mit der mich sehr vereinnahmenden Stelle als Lehrer gehadert, dass ich kurz davorstand, sie aufzugeben. Dass meine ältere Tochter just in diesem Moment zu mir an den Gymer in die Schule kommen wollte, gab mir einen neuen Energieschub. Ich bin geblieben und habe die Schule von einer neuen Seite, aus der Perspektive meiner Tochter, kennen gelernt.
Das eigene künstlerische Arbeiten, das Produzieren von Musik und Lyrik, habe ich nun auf nach der Pension vertagt. Im Moment ist das Schaffen von Freiräumen für Kreativität eine logistische Unmöglichkeit, die ich annehme.
Es schlagen zwei Herzen in meiner Brust. Das Herz des Künstlers und das Herz des Lehrers. Im Moment mag das Herz des Lehrers schneller schlagen. Aber das Künstlerherz kommt eines Tages vielleicht umso gestärkter aus seiner Ruhezeit hervor.»