«In den Camps hat es viel zu wenig Übersetzer»

von Naomi Jones 5. Februar 2016

Die 57-jährige Immobilientreuhänderin Ursula Wohlgefahrt nutzte ihre Weihnachtsferien, um im Balkan als Freiwillige den Flüchtlingen zu helfen. Sie erzählt Journal B von ihrer Erfahrung.

«Ich wollte mich schon längere Zeit für die Flüchtlinge auf der Balkanroute einsetzen. Im Dezember erhielt ich einen Facebook-Link mit dem Titel ‚Weihnachten an der Balkanroute’. Ich meldete mich an und wurde schliesslich von einem deutschen Informatiker kontaktiert, der zur selben Zeit in den Balkan reisen wollte, wie ich. Ich konnte mit ihm mitfahren. Ausserdem organisierte er die nötigen Bewilligungen und Anmeldungen.

Wer helfen will, muss seinen Einsatz bei einer Volunteer-Organisation anmelden. Auf eigene Faust loszufahren hilft wenig. Die Intereuropean Human Aid Association zum Beispiel koordiniert freiwillige Helfer, damit sie dort eingesetzt werden, wo sie wirklich gebraucht werden. Weil in den Weihnachtsferien viele Helfer vor Ort waren, war ich zusammen mit einem deutschen Informatiker in vier verschiedenen Camps in Serbien, Slowenien und Kroatien tätig. Allerdings herrscht jetzt, wo die Festtage vorüber sind, wieder überall ein Mangel an freiwilligen Helfern.

Unsere Hauptaufgaben waren putzen, Kleider und Schuhe sortieren und verteilen. Wenn 1000 Menschen innerhalb von zwei bis drei Stunden durch einen Warteraum von der Grösse eines Fussballfeldes gehen, sieht es danach aus, als hätte ein Erdbeben stattgefunden. Sobald ein Tross von Flüchtlingen auf einen Zug gestiegen war, mussten wir das Camp für den nächsten Tross herrichten: Abfall entsorgen, Armeedecken wieder falten, wischen und die Kleiderregale wieder auffüllen. An einem Tag habe ich acht Stunden lang Decken gefaltet. Danach konnte ich meine Arme nicht mehr heben.

Weil ich ein wenig Arabisch konnte, wurde ich als Hilfsübersetzerin eingesetzt. In den Camps hat es viel zu wenig Übersetzer. Nur schätzungsweise ein Drittel der Flüchtlinge spricht Englisch. Die andern sprechen Arabisch, Urdu oder Farsi. Helfer, die eine dieser Sprachen zumindest rudimentär beherrschen, sind somit besonders gesucht. Zumindest Englisch sollten sie aber sprechen.

Es gibt so viel zu tun, dass man als Helfer in einen richtigen Sog kommt und nicht aufhören kann. Eine Schicht dauert normalerweise acht Stunden. Aber ich habe immer mal wieder zwei Schichten aneinander gehängt. Doch man muss sich abgrenzen können. Denn irgendwann braucht der Körper Ruhe. Man muss die Batterien wieder aufladen und das Erlebte verarbeiten können. Das Elend ist riesig und man kann so vielen Menschen nicht helfen. Einige Volunteers verzweifeln darüber beinahe. Ich habe mein Möglichstes getan und gehofft, dass diejenigen, denen ich nicht helfen konnte, im nächsten Camp das Nötigste bekämen.

Die Infrastruktur der Camps ist sehr dürftig. Es gibt zu wenige Toiletten und meistens gar keine Infrastruktur für Familien mit Kleinkindern. Die Flüchtlinge müssen sich zum Warten in einem kaum geheizten Zelt auf einen Boden aus Holzpaletten setzen und in Decken einhüllen. Vom Uno Flüchtlingshilfswerk UHNCR erhalten sie Verpflegungssäckchen. Es sind aber auf der ganzen Balkanroute dieselben Plastiktaschen mit etwas Brot, Sardellen oder Thon in der Büchse, einer Frucht und einem Schokoladenriegel. Die Flüchtlinge würden aber dringend warme Mahlzeiten benötigen. Etwas, das sie wärmt und nährt. Auch die Kommunikation zwischen den Hilfsorganisationen ist eher dürftig. In Belgrad gibt es ein wunderbares Spielangebot für Kinder von der Hilfsorganisation Save the Children. Bloss kommen dort fast keine Familien an. Dorthin kommen vor allem junge Männer an, die den weniger teuren aber beschwerlichen Weg durch die Berge genommen haben. Hingegen wäre das Kinderangebot im Camp von Sid, ebenfalls in Serbien, sehr hilfreich. Dafür gibt es in Sid die einzige und überaus begehrte Handyladestation.

Ich will den Organisationen und den Menschen vor Ort keinen Vorwurf machen. Sie tun, was ihnen möglich ist. Vor 20 Jahren war im Balkan ebenfalls Krieg. In Kroatien sind heute noch mehr als 20 Prozent der Bevölkerung arbeitslos. Diese Leute sind bitter arm. Im Camp Slavonski Brod werden Arbeitslose als Putzhilfen beschäftigt. Dort verdienen sie ein paar Kuna pro Tag und sehen gleichzeitig, wie wir den Flüchtlingen Kleider, Schuhe und Essen verteilen, das sie ebenfalls nötig hätten. Wir Helfer durften den angestellten Putzhilfen aber nichts abgeben. Ausserdem gibt es gerade in diesen Ländern seit dem Krieg mit Bosnien Ressentiments gegen Muslime. Viele der Flüchtlinge, die nun durch den Balkan ziehen sind aber Muslime. Vielleicht sind dies Gründe dafür, weshalb die Polizei durch die Camps patroulliert und sich den Flüchtlingen gegenüber grösstenteils sehr arrogant verhält. Eigentlich müsste die Polizei die Camps nur bewachen und schützen.

Nach meinen Erlebnissen im Balkan verstehe ich die Flüchtlingspolitik noch weniger als zuvor. Ich schäme mich richtiggehend dafür, wie die Schweiz mit Flüchtlingen umgeht. Diese Menschen haben auf ihrer Flucht viel Schweres erlitten. Wenn sie bei uns ankommen, wird ihnen, das wenige, was sie noch haben, weggenommen. Deshalb setze ich mich auch hier für Flüchtlinge ein. Ich erteile Deutschunterricht und suche Wohnungen für anerkannte Flüchtlinge. Im Mai plane ich einen nächsten Einsatz an der Front.»