«In Bern verläuft die politische Diskussion extrem ideologisch»

von Luca Hubschmied 18. September 2019

Für die Stadtberner FDP will Claudine Esseiva diesen Herbst in den Nationalrat einziehen. Im Interview spricht sie über ihre Zeit im Berner Stadtrat und wie sie sich im nationalen Parlament für die Rolle Berns als Politikzentrum einsetzen will.

Der Wahlkampf ist in vollem Gange, das merkt man Claudine Esseiva an, als sie am Samstagmorgen zum Gespräch im Nocciolata an der Bundesgasse auftaucht. Die Berner Stadträtin trägt ein FDP-Shirt mit ihrem Namen drauf, unter ihrem Arm klemmen zwei Wahlplakate. Seit 2017 sitzt die gebürtige Freiburgerin im Berner Stadtparlament. Vor vier Jahren erreichte sie bei den Nationalratswahlen den dritten Platz und somit den ersten Ersatzplatz hinter Christa Markwalder und Christian Wasserfallen. Nun kandidiert sie erneut für einen Nationalratssitz bei den anstehenden Wahlen am 20. Oktober.

 

Claudine Esseiva, seit zwei Jahren sitzen Sie in Bern im Stadtrat. Weshalb zieht es Sie auf die nationale Bühne?

Bevor ich nach Bern kam, hatte ich schon acht Jahre im Freiburger Stadtparlament politisiert. Ich finde die Gemeindepolitik sehr interessant, besonders die Nähe zu den Leuten. Der Wirkungsgrad ist aber sehr beschränkt. In der Stadt Bern verläuft die politische Diskussion zudem extrem ideologisch. Durch die Kleinräumigkeit in Fribourg war man sich menschlich näher. Hier ist die Politik von beiden Seiten ideologisch geprägt. Wenn zum Beispiel die Stadtberner FDP reduziert wird auf die Parkplatzdiskussion, gefällt mir das nicht, auch wenn die Diskussion über ein ausgewogenes Verhältnis von AnwohnerInnen und Parkplätzen durchaus seine Berechtigung hat. Doch wir haben definitiv wichtigere Themen, die wir angehen müssen, wie Raumplanung oder der Umgang mit Lärmklagen und Grossanlässen.

Welche Themen konnten Sie trotz der rotgrünen Dominanz in Ihrer Zeit in Bern auf die Agenda bringen?

Grosse Erfolge sind sicher die Verbesserungen in Bildungspolitik und Kinderbetreuung, wie etwa die Einführung der Betreuungsgutscheine. Das ist gelungen, weil wir überparteilich zusammengearbeitet haben und so einen Mehrwert aufzeigen konnten. Darauf bin ich stolz. Bei der Finanzpolitik sind wir schon jene, die den Finger drauf halten. Zwar waren unsere Bemühungen nicht immer von Erfolg gekrönt, aber es ist wichtig, dass es auch ein finanzpolitisches Gewissen im Stadtrat gibt. Ein anderer überparteilicher Erfolg ist die Diskussion um die Grossstadtregion Bern, die wir im Rahmen des Vereins BernNeuGründen anstossen konnten. Noch vor zwei Jahren hätte ich selbst kaum geglaubt, dass wir nun plötzlich Machbarkeitsstudien zu Gemeindefusionierungen durchführen.

Welches sind die städtischen Interessen, die Sie auf nationaler Ebene einbringen möchten?

Die Lärmthematik ist ein nationales Thema. Da braucht es eine starke Städtelobby. Die Städte sollen nicht nur touristisch attraktiv sein, sondern auch Orte zum Leben, Arbeiten und Wohnen darstellen. Die damit verbundene Raumplanung ist auf der nationalen Ebene sehr wichtig. Die Stimme der urbanen Zentren muss besser gehört werden.

Auf nationaler Ebene ist es mir zudem ein Anliegen, dass Bern als Politikzentrum präsenter wird. Als Beispiel: Momentan wird in der Vernehmlassung über die Kulturbotschaft diskutiert. In dieser Kulturbotschaft will der Bundesrat der Stadt Bern die sogenannte «Bundesmillion» streichen. Die Stadt Bern bekommt vom Bund eine finanzielle Beteiligung am Kulturangebot, da wir als Politzentrum Repräsentationsaufgaben übernehmen Der Bundesrat will nun in Zukunft von diesem Beitrag absehen. Da zeigt sich, wie wenig Bern als Politzentrum auf nationaler Ebene wahrgenommen und geschätzt wird.

 Auch medienpolitisch haben wir Aufholbedarf. Als Bundesstadt muss Bern ein starker Medienplatz sein. Wenn ich bei der Berner Zeitung höre, dass in Bern nur noch die Ressorts Region und Sport gemacht werden, bricht mir das Herz. Ich wünsche mir eine nationale relevante Berichterstattung vom Politzentrum aus. Die deutsch-französische Zweisprachigkeit in unserer Region ist ein weiterer Vorteil, den wir bekannter machen sollten. Bern ist ein Bindeglied zwischen der Romandie und der Deutschschweiz. Bern hat nun eine zweisprachige Schule, das ist genial, am liebsten würde ich dazu einen Bericht in der Tagesschau sehen. Da verstehe ich mich klar als Standortkämpferin. Bei solchen Dingen zeigt sich auch der Link zu den Gleichstellungsthemen, für die ich mich einsetze. Auch wir Frauen betreiben viel zu oft understatement und lassen anderen den Vortritt. Das erinnert mich ein wenig an Bern.

Die Klimathematik hat das Wahljahr bisher geprägt, auch die FDP hat sich zu einem grünen Kurswechsel entschieden. Wie stehen Sie zu dieser Neuausrichtung?

Ich finde es mutig und richtig, wie Petra Gössi die FDP neu auf Kurs gebracht hat. Die GLP gehört eigentlich zur FDP. Grüne Themen passen zu uns, weil Ökologie und Ökonomie eng zusammenhängen. Zu oft wird grün nur mit linker Ideologie und staatlichen Eingriffen gleichgesetzt, dem stehe ich kritisch gegenüber.

Meine Stieftöchter sind 14 und 21 Jahre alt, wenn ich von ihnen höre, dass sie Angst um die Zukunft haben, beunruhigt mich das. Deshalb ist es wichtig, dass wir in diese Diskussion liberale Lösungen mit einbringen. Die FDP-Basis hat sich ja schlussendlich klar für diesen Richtungswechsel entschieden, da gab es wenig zu diskutieren.

Im Vorfeld der Wahlen wurde viel über einen möglichen Linksrutsch diskutiert. Was wünschen Sie sich für ein Zeichen der Stimmberechtigten am 20. Oktober?

Ich wünsche mir einen Frauenrutsch im Jahr des Frauenstreiks. Ich erhoffe mir sehr, dass insbesondere im Ständerat die Vertretung der Frauen steigen wird. Um das zu erreichen, steht auch die FDP in der Verantwortung. Dieser Frauenrutsch muss nicht mit einem Linksrutsch verbunden sein. Zumindest in den Listen der Parteien zeigt sich, dass der Frauenanteil schon gestiegen ist und bei den Kandidatinnen handelt es sich nicht einfach um Listenfüllerinnen.

Wie schwierig die Vereinbarkeit von Politik und Familie heute immer noch ist, habe ich in Bern oft selbst erlebt. Wenn etwa Kommissionssitzungen des Stadtrats an einem Mittwoch um 17 Uhr angesetzt werden, ist es für Mütter und Väter, die an diesem Tag ihre Kinder betreuen, nur schwer möglich, daran teilzunehmen. Ich finde aber, dass man es auch Eltern ermöglichen soll, sich in der Politik zu engagieren.