Herr Loosli, Sie sind Schauspieler. Warum organisieren Sie auch noch die öffentliche Silvesterparty des Stadttheaters?
Jonathan Loosli:
Das Theater steckt allgemein in einer Krise. Vor allem junge Menschen zwischen 20 und 40 Jahren kommen kaum ins Theater. Denn Theater als Institution ist verstaubt und das kulturelle Angebot ist derart gross, dass ein Stadttheater nicht nur gute Qualität liefern muss, sondern auch sehr laut «Hallo» sagen muss, um überhaupt wahrgenommen zu werden. Mich interessiert die Frage, wie man die jungen Menschen ins Theater bringt.
Kommen die Leute nachher wirklich ins Theater, weil sie dort an einer Party waren?
Nicht unbedingt. Aber sie waren im Theater auf einer Party. Ich definiere Theater sehr grundsätzlich. In meiner Ausbildung in Berlin habe ich erlebt, was es heisst, wenn das Theater für das Volk da ist. Das Theater ist dann ist ein Ort, wo alles zusammenkommen kann, wo man neue Formen finden kann und wo sich jeder etwas holen kann. In der Volksbühne hatte ich das Gefühl an einem Ort zu sein, den man benutzen darf und soll und zwar jede und jeder. Das ist mein Ideal von Theater. Dort begann mich die Frage zu faszinieren, wie weit ein Theater überhaupt gehen kann. Auch in Bern sollte die hochsubventionierte Institution so brummen, dass sich dort alle etwas holen können. Ich glaube aber, wir sind auf einem guten Weg.
Wie weit kann es denn gehen?
Die Universität der Künste in Berlin, wo ich meine Ausbildung machte, steht für das Zusammenführen von verschiedenen Kunstformen. Auch die Theaterpartys sind der Versuch, das Theater in neue Formen zu bringen. Wie kann ich Menschen ins Spiel verwickeln? Wo sind die Ränder des Theaters? Dabei haben die spielerischen Interventionen viel mit Theater zu tun. Wir führen die Gäste in eine imaginierte Welt. Auch wenn junge Leute verkleidet an die Party kommen, ist das Theater und Spiel. Theater ist viel mehr als nur der Ort, wo ein Theaterstück aufgeführt wird. Theater ist Spiel. Und dieses Spiel beginnt dort, wo sich die Fantasie öffnet. An unseren Theaterpartys gehen die Schauspieler mit dem Publikum in eine Spielwelt, die etwas verändert. Die Partys sind daher ein Crossover-Projekt. Eine Theater-Party ist dann besonders gut, wenn sich soziale Schichten, wie etwa Bildungsbürger und Partygänger, mischen und etwas Neues dabei entsteht.
Wie sind Sie dazu gekommen, die Partys zu organisieren?
Ich begann damit in Weimar. Denn ich nervte mich darüber, dass insbesondere die Kunststudenten der Stadt nie ins Theater kamen. Deshalb nannte ich diese Partys «Studenten, wir kriegen euch».
Sie machten Ihre Ausbildung in Berlin und waren danach in Weimar. Warum sind Sie nach Bern gekommen?
Einerseits wollte ich mit meiner Frau eine Familie gründen und wir fanden, Bern sei der richtige Ort dazu. Ich bin in Rüeggisberg aufgewachsen und in Köniz ins Gymnasium gegangen. Andererseits merkte ich in Weimar, dass ich gerne Theater für eine Stadt mache, die ich kenne. Das Theater muss mit dem Ort, wo es ist, und mit den Menschen an diesem Ort verbunden sein. In Bern hatte ich zudem immer Menschen, mit denen ich Theater machen wollte. Nebst meiner Anstellung im Stadttheater realisiere ich zusammen mit meiner freien Theatergruppe eigene Ideen.
Wie sind Sie denn aufgewachsen?
Rüeggisberg war noch ein Bauerndorf, als ich ein Kind war. Mein Vater war dort Lehrer. Aber unsere Nachbarn waren Bauern. Sie waren meine zweite Familie. Ich konnte dort ein- und ausgehen, wie ich wollte. Ich habe einen Bruder, der ein Jahr älter ist als ich. Er war für mich wie ein Zwilling. Wir ergänzten uns und hielten uns gegenseitig den Rücken frei.
Da scheint es eher erstaunlich, dass Sie Schauspieler geworden sind.
Lange wollte ich wie mein Bruder Musiker werden. Seit der zweiten Klasse spielte ich Trompete und als Jugendlicher war ich in verschiedenen Bands. Am Gymnasium in Köniz spielte ich aber in einer ambitionierten Theatergruppe. Zusammen mit einem Freund aus dieser Gruppe machte ich noch im letzten Jahr des Gymnasiums ein eigenes Stück. Hier merkte ich, was professionelles Theaterschaffen war. Als mein Freund die Prüfung an der Schauspielschule in Zürich machte, ging ich ebenfalls hin. Es klappte dort zwar nicht, aber mir war klar, dass ich den Beruf ergreifen wollte. Also bewarb ich mich an fünf weiteren Schulen im deutschsprachigen Raum. Dass ich die Prüfung in Berlin bestand, war für mich die Erfüllung eines Traumes.
Ihre Eltern waren nicht dagegen?
Die Eltern unterstützten mich zum Glück sehr. Musik spielte zu Hause immer eine grosse Rolle und später erfuhr ich, dass auch mein Vater mit dem Gedanken gespielt hatte, eine Schauspielschule zu besuchen. Berlin war ein Glücksfall. Die Stadt prägte mich sehr, denn ich musste mich dort neu erfinden. Ich war 22 Jahre alt, als ich dort hin kam und sog alles wie ein Schwamm auf. Das was die Volksbühne dort leistete, ist heute noch mein Ideal von Theater. Sie war ein offenes Haus. Damals war Frank Castorf noch dort. Auch Marthaler inszenierte dort. Gleichzeitig befanden sich im Gebäude des Theaters zwei funktionierende Clubs und das Haus war offen für riesige Partys.
Bevor die Silvesterparty um 23 Uhr losgeht, spielen Sie die Hauptrolle in der Bühnenversion von Pedro Lenz‘ Buch «Der Goalie bin ig». Für den Fernsehfilm «Dinu» haben Sie sich eine Schwingerfigur antrainiert. Können Sie den Goalie, einen Looser und Junkie, noch verkörpern?
Ich habe in mir viele Anteile des Goalie. Er ist ein begnadeter Geschichtenerzähler, der sich alles schön redet. Dann ist er ein unglaublich «lieber Siech», der deshalb immer wieder «uf d’Schnurre gheit». Aber wer kennt das nicht auch von sich. Jeder ist schon mal von einem Freund verarscht worden. Auch den masslosen Konsum kennt jeder Mensch, ohne deswegen gleich ein Junkie zu sein. Abgesehen davon ist auch der Schwinger Dinu kein reiner Winner-Typ und hat Looser-Momente.
Welche Figur steht Ihnen näher?
Beide Figuren sind mir nah. Allerdings ist im Dinu mehr von mir persönlich drin. Schon allein, weil ich mich dafür körperlich verändern musste. Beim Goalie sind es eher Aspekte von mir, die der Figur ähnlich sind. Meine Identifikation mit dem Goalie läuft vor allem über die Sprache von Pedro Lenz. Er ist vielleicht der grösste zeitgenössischen Mundartautoren.