Anfang Juli wäre Chlöisu Friedli siebzig geworden. Am 3. Juli 1981 ist er in der Nähe der Psychiatrischen Klinik Waldau unter den Zug gegangen. Das war der letzte Abgang von «Salty Dog», wie er nach einem seiner bekanntesten Songs gerufen wurde. 1982 gab der Freundeskreis seine Piano-Blues und -Boogies, seine Stories und Songs auf einer Langspielplatte unter dem Titel «Wohäre geisch?» heraus. 1991 erschien diese LP als CD.
Nun wird das Wiederhören mit Chlöisu Friedli auf der eben erschienenen «Edition 2019»-LP möglich. Auf der Seite B erklingen in neuer Reihenfolge die gleichen Titel wie auf den alten Tonträgern, auf der Seite A fehlen zwei Instrumentalstücke, dafür ist neu «Es auts Froueli» zu hören, ein berndeutscher Bluessong, dazu das bekannte Instrumentalstück «Please Don’t Talk About my Baby» – allerdings als Livemitschnitt mit einem mehrminütigen Intro von Friedli über den «Chüngu mit sibe Junge», die er nächstens bekommt.
Der «Sünneli-Blues»
Man muss sich das so vorstellen: Chlöisu Friedli setzt sich ans Klavier, schlägt einen Akkord und sagt: «I schpile e Boogie vom Jimmy Yancey». Dann einen zweiten: «Dä isch Schportplatzabwart gsi.» Ein kurzer virtuoser Schlängger, schon ist man drin im Blues und hört gebannt zu, wie der Musiker weiterspielend leichthin erzählt: Sportplatzabwarte hätten seinerzeit als Aussteiger gegolten. Wenn einer heute aussteige, dann lande er nicht selten in der Psychiatrischen Klinik. Letzthin sei eine junge Frau in die Waldau eingeliefert worden, bloss weil sie ein Bett gebraucht habe zum «Pfuuse u Usschlaafe». Beim Weitererzählen wird klar: Hier spricht einer, der das alles selber erlebt hat: Es geht darum, was die Krankenkasse bezahlt, es geht um eine Spritze für Herrn Friedli, um die Toilette als Aufenthalts- und Besucherraum und um die IV-Rente, die er heute bekomme. Wenn er danach zu singen beginnt – «I go go sünnele durch d’Wuche düre, i weiss werum» –, dann verschwimmt die Freiheit, tun zu können, was man will mit der Verzweiflung, als Stigmatisierter endgültig rausgefallen zu sein aus der heilen Welt der Normalos. «Das isch der Sünneliblues, won i ha», singt er und brummt in den Schlussakkord: «Schtüüre zahl i kener me.»
Der Kobold auf der Heubühne
Die Fata morgana-Genossenschaft, die nun von Friedlis «Wohäre geisch?» die «Edition 2019» auf Vinyl herausgibt, wurde 1984 von Urs Hostettler und anderen gegründet. Seit 1985 betreibt sie unter anderem das «DracheNäscht» an der Rathausgasse. 1993 hat Hostettler in einem Buch Chlöisu Friedlis Texte veröffentlicht. Es heisst «Das Gesetz des Waldes», ist längst vergriffen und hat das wohl einmalige Format von 20×13,5×19,5×14,5 Zentimeter.
Im Nachwort skizziert Hostettler die Biografie des Autors: Chlöisu Friedli wächst im Bethlehemacker auf, besteht im Gäbelbachtäli bei der Suche nach Zwergen und Elfen seine ersten Mutproben und erlebt, wie im Quartier die Hochhaussiedlung Tscharnergut in die Höhe wächst. Daneben lernt er Klavier spielen. Mit achtzehn ist er tagsüber KV-Stift im Konsum und abends Pianist der Longstreet Jazzband in der Szenebeiz «Schwarze Tinte». Seine Leidenschaft gilt dem Blues und dem Boogie.
Im Herbst 1971 heiratet er Alice. Er arbeitet als Betonbrenner, dann als Kellner, später halbtags für eine Werbeagentur. 1972 kommt die Tochter Julia zur Welt. Die Familie zieht aufs Land, in ein kleines Holzhaus in Zimlisberg bei Rapperswil. Als Musiker und Unterhalter ist er nun solo unterwegs, «ein trauriger Clown», wie Hostettler schreibt. Er arbeitet in der Stadt bei der Denkmalpflege, und beim Putzen der Heubühne in seinem Häuschen begegnet er einem kleinen, schauerlich stinkenden Männchen mit leuchtend gelben Augen. Auf seine Frage, wer er sei, erhält er zur Antwort: «Du wirst mich niemals vergessen! Ich bin der Kobold von Zimlisberg!» Im Spätherbst 1973 fährt Chlöisu Friedli mit dem Töffli in den Wald, schneidet sich die Pulsadern auf und nimmt Schlaftabletten. Pfadfinder finden ihn.
Waldau, Advent, Neuroleptika. Nur langsam kommt er aus der Krise zurück. Die Band heisst jetzt Blues Shouters. Manchmal wohnt er mit seiner Familie zusammen. 1977/78: La Colle, Haute-Provence, 1978/79: Bordei im Centovalli, eine therapeutische Wohngemeinschaft, Teil der Stiftung Terra Vecchia. Er ist psychisch zum Grenzgänger geworden, nutzt seine Zeit zum Klavierspielen und schreibt an einem Buch mit Heinzelmännchen-Geschichten.
Er lernt Sylvia kennen, die sein Buch illustriert und seine Freundin wird. Zurück in Bern wohnen die beiden in einem städtischen Abbruchobjekt am Sulgenrain. Er beginnt bei der Asphalt Blues Company mitzuspielen. Und neuerdings macht er aus seinen Alltagsstorys berndeutsche Songs. Für eine Fernsehdokumentation spielt er den «Tscharni-Blues» ein; im Februar 1981, bei der nächsten Studio-Session, den «Sünneli-Blues». Dann geht er nach Frankreich und als er zurückkommt, setzt er seine Medis ab und gerät in eine schwere Krise. Waldau. Als er Richtung Bahngeleise geht, nimmt er sein schwarzes Notizbüchlein mit.
Ein Ton, der bleibt
Im Titelstück singt Friedli: «Wohäre geisch? I chum itz grad mit dr, Meitli». Und er singt diesen inneren Monolog mit einer Authentizität, die immer wieder berührt, eine in Musik gefasste Direktheit, die nur in dieser Form direkt zu sein vermag. Diese Konfrontation mit dem Hier und Jetzt ereignet sich bei jedem neuen Hören von Chlöisu Friedlis Musik immer wieder neu. Er musste gehen. Aber seine Musik bleibt als eine der eigenständigsten und eigenwilligsten Musiken der Berner Liedermacher im 20. Jahrhundert und soll nicht vergessen werden.