«Im Winter schlitteln wir nach Ostermundigen runter»

von Janine Schneider 8. April 2022

Ein partizipatives Kunstprojekt des ClubReal möchte öffentliche Diskussionen zur Fusion anstossen. Bevor sich der Rollende Tisch in Bewegung setzen kann, muss er aber erst noch gebaut werden. Zwischen Malen, Hämmern, Bohren erfahren wir, was Ostermundiger und Berner Schüler*innen über die Fusion denken.

«Ich habe den Kindern gesagt: Am ersten April bauen wir einen Tisch», Luca Coda lacht, «Sie haben mir nicht geglaubt und gedacht, das sei ein Aprilscherz.» Der Lehrer ist mit seiner Primarschulklasse auf Besuch in der Gemeindebibliothek Ostermundigen.

Die Fünft -und Sechstklässler*innen gehen in die Schule Bitzius auf Berner Gemeindegebiet. In der hiesigen Bibliothek waren sie auch schon. Einen Tisch haben sie hier allerdings noch nie gebaut. Und vor allem noch nie einen rollenden Tisch.

Ein Ort für Gespräche und Diskussionen

Der rollende Tisch ist ein Projekt der Künstler*innengruppe Club Real. Das Objekt: Ein massiver Holztisch mit angebauten Bänken auf Rollen, der von Hand gezogen bzw. geschoben werden kann. Die Idee: Der Tisch wird entlang einer Route an verschiedene Standorte gerollt und lädt zum Mitsitzen und Mitdiskutieren ein.

ClubReal hat den rollenden Tisch unter anderem schon an der deutsch-polnischen Grenze auf der Grenzbrücke zwischen in Słubice und Frankfurt an der Oder sowie in Berlin zum Todestag von Rosa Luxemburg eingesetzt.

Der Künstler Georg Reinhardt erklärt den Schüler*innen ihre Aufgabe (Foto: Susanne Goldschmid).

Nun wurde die Künstler*innengruppe vom Kornhausforum und vom Politforum Bern eingeladen, den rollenden Tisch als Teil der Ausstellungskooperation «Sammeln, Reden, Entscheiden – Orte der Demokratie» einzubringen.

Georg Reinhardt und Paz Ponce sind dazu extra aus Berlin angereist. Im Fokus: die geplante Fusion zwischen Ostermundigen und Bern. Der Tisch soll von Ostermundigen nach Bern rollen, unterwegs wird er an verschiedenen Orten halten und Gesprächsrunden mit geladenen Gästen und Passant*innen stattfinden.

Wird dem Bären das Fell gegerbt?

Zuerst muss der Tisch allerdings noch gebaut werden. Vor der Gemeindebibliothek Ostermundigen, die zu den Kornhausbibliotheken gehört, lagern am Freitag, dem 2. April, schon die langen zugeschnittenen Holzbalken, daneben stehen vier Räder, Schrauben, Bohrer, Schleifmaterial.

Das Wetter meint es allerdings nicht gut mit dem rollenden Tisch. Es schneit und windet in aller Nässe. Mit der Primarschulklasse von Luca Coda wird deshalb zuerst einmal ein anderes Projekt angegangen.

Journal B unterstützen

Unabhängiger Journalismus kostet. Deshalb brauchen wir dich. Werde jetzt Mitglied oder spende.

Auf den Tischen in der Bibliothek liegen Filzstifte, Papier und zwei Wappenvorlagen bereit. Es sind jene der Gemeinden Bern und Ostermundigen. Ein Bär und ein Gerbermesser, wie die Kinder zu erzählen wissen.  Die Aufgabe der Kinder ist es nun, aus den alten ein neues Wappen für die Gemeinde Bern-Ostermundigen zu entwerfen.

„Rollender Tisch“ zur möglichen Gemeindefusion Bern & Ostermundigen; Schüler:innen der Schule Bitzius Bern entwerfen ein mögliches Wappen; mit dem Künstler:innen Kollektiv Club Real aus Berlin (Paz Ponce & Georg Reinhardt); in der Gemeindebibliothek Ostermundigen; organisiert durch das Polit-Forum & Kornhausforum Bern; 1.4.2022, Bild: Susanne Goldschmid

Sie sind schnell bei der Sache. «Machen wir einen Schirm!» – « Jetzt sieht es aus wie ein Hase…» – «Ich mache verschiedene Entwürfe.» Eines der Mädchen lässt den Bären weg. «Hast du den Bären rausgeschmissen?», fragt Georg. «Ja.»

Auswirkungen der Fusion

Die Kinder wissen zwar noch wenig über die Fusion, dafür aber ganz genau wo die Grenze der beiden Gemeinden im Quartier verläuft: «Im Winter schlitteln wir immer nach Ostermundigen runter!» Mit Kindern aus Ostermundigen haben sie aber kaum zu tun. Diese gehen nach Ostermundigen in die Schule.

Der Bär bleibt den meisten Wappen erhalten (Foto: Susanne Goldschmid)

Langsam nehmen die neuen Wappen Gestalt an. Sie werden kopiert, die Kopien ausgeschnitten und auf Brottüten geklebt, in denen dann am Samstag Brötchen verteilt werden sollen. Die Kinder betrachten zum Schluss aufmerksam die Entwürfe ihrer Klassenkamerad*innen.

«Dieses hier gefällt mir sehr gut» – «Der ist cool, der sieht fast aus wie ein Werwolf.» Die neuen Entwürfe sind so überzeugend und kunstvoll gestaltet, dass ein neues Wappen für Bern, wenn auch äusserst unrealistisch, schon fast wünschenswert erscheint.

Kleine Kunstwerke der Berner Primarschüler*innen aus dem Bitzius-Schulhaus (Foto: Susanne Goldschmid).

Die Stadt als Körper

Am Nachmittag dann, das Wetter ist keinen Deut besser, kommt eine neunte Sek-Klasse aus Ostermundigen mit ihrem Werk- und Klassenlehrer zur Gemeindebibliothek. Sie sollen nun zusammen mit Georg Reinhardt den Tisch bauen. Beim Bohren, Schrauben, Schleifen und Lackieren nimmt der Tisch Gestalt an. Er ist massiv, eine halbe Tonne schwer, mit menschlicher Fracht sogar eine Tonne.

Die Holzlatten sind schon geschnitten, nun muss der Tisch noch in der richtigen Reihenfolge zusammengebaut werden (Foto: Susanne Goldschmid).

Drinnen hat Paz Ponce derweil eine Karte von Bern und Agglomeration ausgelegt und fragt die Schüler*innen: «Wo tut es weh? Und wo gibt es Orte, die dir im Gegenzug gefallen?» Die Gemeinden als Organismus, dem es besser oder schlechter gehen kann, das ist typisch für den Club Real, der sich in anderen Projekten auch für eine sogenannte Organismendemokratie einsetzt: Gleiche politischen Rechte für alle Lebewesen.

Hier wird geschraubt und gebohrt (Foto: Susanne Golschmid).
Der Tisch muss allen Wetterbedingungen standhalten können (Foto: Susanne Goldschmid).

Nach Bern orientiert

Ein Blick auf die Karte zeigt, dass die Antworten der Ostermundiger Schüler*innen sehr bernbezogen ausfallen: Bei der Reitschule schmerzt es. Rosengarten, Allmend und Altstadt sind positiv konnotiert. Auch Orte und «Schandflecken» in Ostermundigen werden genannt.

Wo tut es weh? Die Künstlerin Paz Ponce macht Mini-Interviews in der Wärme (Foto: Susanne Goldschmid).

«Aber für die Jugendlichen würde sich mit der Fusion nicht viel ändern», so ihr Lehrer Samuel Barraud, «Sie sind stadtorientiert. Dorthin gehen sie in den Ausgang und zum Fussballspielen.» Was die Organisation der Schule betreffe, müsse aber wahrscheinlich eine gewisse Angleichung stattfinden. Wie sehr, das könne er noch nicht beurteilen.

Um drei Uhr muss die Klasse wieder gehen. Der Tisch steht nun auf Rädern, aber an seinen Seiten fehlen noch die Bänke und die Reflektionsstreifen für den Strassenverkehr. Für Georg und Paz ist der Tag noch nicht zu Ende. Am nächsten Tag muss der Tisch seine Reise von Ostermundigen nach Bern antreten können.