«Ich habe den Kindern gesagt: Am ersten April bauen wir einen Tisch», Luca Coda lacht, «Sie haben mir nicht geglaubt und gedacht, das sei ein Aprilscherz.» Der Lehrer ist mit seiner Primarschulklasse auf Besuch in der Gemeindebibliothek Ostermundigen.
Die Fünft -und Sechstklässler*innen gehen in die Schule Bitzius auf Berner Gemeindegebiet. In der hiesigen Bibliothek waren sie auch schon. Einen Tisch haben sie hier allerdings noch nie gebaut. Und vor allem noch nie einen rollenden Tisch.
Ein Ort für Gespräche und Diskussionen
Der rollende Tisch ist ein Projekt der Künstler*innengruppe Club Real. Das Objekt: Ein massiver Holztisch mit angebauten Bänken auf Rollen, der von Hand gezogen bzw. geschoben werden kann. Die Idee: Der Tisch wird entlang einer Route an verschiedene Standorte gerollt und lädt zum Mitsitzen und Mitdiskutieren ein.
ClubReal hat den rollenden Tisch unter anderem schon an der deutsch-polnischen Grenze auf der Grenzbrücke zwischen in Słubice und Frankfurt an der Oder sowie in Berlin zum Todestag von Rosa Luxemburg eingesetzt.
Nun wurde die Künstler*innengruppe vom Kornhausforum und vom Politforum Bern eingeladen, den rollenden Tisch als Teil der Ausstellungskooperation «Sammeln, Reden, Entscheiden – Orte der Demokratie» einzubringen.
Georg Reinhardt und Paz Ponce sind dazu extra aus Berlin angereist. Im Fokus: die geplante Fusion zwischen Ostermundigen und Bern. Der Tisch soll von Ostermundigen nach Bern rollen, unterwegs wird er an verschiedenen Orten halten und Gesprächsrunden mit geladenen Gästen und Passant*innen stattfinden.
Wird dem Bären das Fell gegerbt?
Zuerst muss der Tisch allerdings noch gebaut werden. Vor der Gemeindebibliothek Ostermundigen, die zu den Kornhausbibliotheken gehört, lagern am Freitag, dem 2. April, schon die langen zugeschnittenen Holzbalken, daneben stehen vier Räder, Schrauben, Bohrer, Schleifmaterial.
Das Wetter meint es allerdings nicht gut mit dem rollenden Tisch. Es schneit und windet in aller Nässe. Mit der Primarschulklasse von Luca Coda wird deshalb zuerst einmal ein anderes Projekt angegangen.
Journal B unterstützen
Unabhängiger Journalismus kostet. Deshalb brauchen wir dich. Werde jetzt Mitglied oder spende.
Auf den Tischen in der Bibliothek liegen Filzstifte, Papier und zwei Wappenvorlagen bereit. Es sind jene der Gemeinden Bern und Ostermundigen. Ein Bär und ein Gerbermesser, wie die Kinder zu erzählen wissen. Die Aufgabe der Kinder ist es nun, aus den alten ein neues Wappen für die Gemeinde Bern-Ostermundigen zu entwerfen.
Sie sind schnell bei der Sache. «Machen wir einen Schirm!» – « Jetzt sieht es aus wie ein Hase…» – «Ich mache verschiedene Entwürfe.» Eines der Mädchen lässt den Bären weg. «Hast du den Bären rausgeschmissen?», fragt Georg. «Ja.»
Auswirkungen der Fusion
Die Kinder wissen zwar noch wenig über die Fusion, dafür aber ganz genau wo die Grenze der beiden Gemeinden im Quartier verläuft: «Im Winter schlitteln wir immer nach Ostermundigen runter!» Mit Kindern aus Ostermundigen haben sie aber kaum zu tun. Diese gehen nach Ostermundigen in die Schule.
Langsam nehmen die neuen Wappen Gestalt an. Sie werden kopiert, die Kopien ausgeschnitten und auf Brottüten geklebt, in denen dann am Samstag Brötchen verteilt werden sollen. Die Kinder betrachten zum Schluss aufmerksam die Entwürfe ihrer Klassenkamerad*innen.
«Dieses hier gefällt mir sehr gut» – «Der ist cool, der sieht fast aus wie ein Werwolf.» Die neuen Entwürfe sind so überzeugend und kunstvoll gestaltet, dass ein neues Wappen für Bern, wenn auch äusserst unrealistisch, schon fast wünschenswert erscheint.
Die Stadt als Körper
Am Nachmittag dann, das Wetter ist keinen Deut besser, kommt eine neunte Sek-Klasse aus Ostermundigen mit ihrem Werk- und Klassenlehrer zur Gemeindebibliothek. Sie sollen nun zusammen mit Georg Reinhardt den Tisch bauen. Beim Bohren, Schrauben, Schleifen und Lackieren nimmt der Tisch Gestalt an. Er ist massiv, eine halbe Tonne schwer, mit menschlicher Fracht sogar eine Tonne.
Drinnen hat Paz Ponce derweil eine Karte von Bern und Agglomeration ausgelegt und fragt die Schüler*innen: «Wo tut es weh? Und wo gibt es Orte, die dir im Gegenzug gefallen?» Die Gemeinden als Organismus, dem es besser oder schlechter gehen kann, das ist typisch für den Club Real, der sich in anderen Projekten auch für eine sogenannte Organismendemokratie einsetzt: Gleiche politischen Rechte für alle Lebewesen.
Nach Bern orientiert
Ein Blick auf die Karte zeigt, dass die Antworten der Ostermundiger Schüler*innen sehr bernbezogen ausfallen: Bei der Reitschule schmerzt es. Rosengarten, Allmend und Altstadt sind positiv konnotiert. Auch Orte und «Schandflecken» in Ostermundigen werden genannt.
«Aber für die Jugendlichen würde sich mit der Fusion nicht viel ändern», so ihr Lehrer Samuel Barraud, «Sie sind stadtorientiert. Dorthin gehen sie in den Ausgang und zum Fussballspielen.» Was die Organisation der Schule betreffe, müsse aber wahrscheinlich eine gewisse Angleichung stattfinden. Wie sehr, das könne er noch nicht beurteilen.
Um drei Uhr muss die Klasse wieder gehen. Der Tisch steht nun auf Rädern, aber an seinen Seiten fehlen noch die Bänke und die Reflektionsstreifen für den Strassenverkehr. Für Georg und Paz ist der Tag noch nicht zu Ende. Am nächsten Tag muss der Tisch seine Reise von Ostermundigen nach Bern antreten können.