Im Heissluftballon über die «Stallhalla»-Stadt

von Fredi Lerch 12. März 2020

«Aus uns ist nichts geworden»: So heisst der neue Roman von Michael Sasdi. Eine Satire auf das revolutionäre Potenzial der mittelständischen Jugend in den 1980er Jahren in einer Stadt wie Bern. Aber ist dieser Roman überhaupt ein Roman?

Vermutlich handelt Michael Sasdis neues Buch in Bern um 1987. Im Zentrum der Handlung: die Bewegung, die Sasdi (* 1968) als Jugendlicher miterlebt hat – also nicht die 1980er-, sondern die 1987er-Bewegung: Eben wird der «Stall» und die «Stallhalla» per Volksabstimmung – bei Sasdi erfolgreich – bekämpft («Sport statt AJZ», 1987). Daneben tauchen «Stadtindianer in ihren Tipis» auf (Zaffaraya-Räumung, November 1987), erwähnt werden die «Strafbar», die Volxbücherei und AIDS. 

Vor dieser Kulisse inszeniert Sasdi eine Bewegung, die von zwei Fraktionen dominiert wird: von den über viele Buchseiten kiffenden Haschhasch-Leuten und jenen der «Militanzia», die sich an «bewaffnetem Kampf, Nicaragua, Kuba und der RAF» orientieren.  

Auf dem Weg zur roten, nackten Schweiz

Um zeitgeschichtliche Präzision geht es Sasdi freilich nicht. Ihm geht es um David Hartmann, Sohn eines Anwalts, der vor allem weiss, was er nicht will: Anwalt werden. Darum sucht Sasdis Protagonist sich einen Weg zwischen politischem Aktivismus und – als Fotograf – künstlerischer Umsetzung von Aktivismus, zwischen Aussenseitertum als Kollektivmitglied und Integration als «Künstler», zwischen WG auf dem Land und AJZ in der Stadt, zwischen Verliebtheiten zu Frauen und solchen zu Simon, zwischen linksradikaler und rechtsradikaler Revolutionsromantik – bis er schliesslich in einem Heissluftballon Richtung DDR diskret aus dem Text entschwindet.

Den Inhalt von Sasdis Roman nachzuerzählen ist nicht einfach. Schwierig ist es, beim Lesen auch nur einigermassen die Übersicht zu behalten. Der Erzähler springt von Einfall zu Einfall, von Figurenkonstellation zu Figurenkonstellation, von Schauplatz zu Schauplatz: von Fotosession zu Banküberfall, von WG-Groove zu Drogenabsturz, vom Partisanen-Dorf in den Piemonteser Bergen über die raurassischen Bauernrevoluzzer zum Nazi-Führer in der Original-SA-Uniform von Ernst Röhm, vom Stallhalla-Brand über den Bundeshaussturm und die Party auf allen Brücken der Stadt bis zum revolutionären Exodus in Booten und Flössen unter den Brücken hindurch stadtauswärts auf dem Weg zur Geburt einer neuen, einer «rote[n] und nackte[n] Schweiz».

Der Roman, der nicht Roman werden will

Eine solche Romanstruktur zu bewältigen, ist anspruchsvoll. Umso mehr, als Sasdi alles gleichzeitig will: den Episodenreichtum, die schnell und unberechenbar wechselnden Perspektiven, die flüchtig angedeutete Figurenführung, die möglichst oft gesuchte Perspektive verkifft-verwischter Weltwahrnehmung, die cool-nachlässig gesetzte Szenensprache.  

Mir als Leser hat Sasdis erzählerischer Anspruch die Lektüre erschwert aus zwei Gründen:

• Beim Lesen entsteht kein Erzählfluss, der den Text zum Roman machen würde. Er liest sich wie eine Sammlung von Kürzestgeschichten, die manchmal durch inhaltliche Bezüge oder Namen in einem Zusammenhang zu anderen stehen – und manchmal nicht. Die Figuren treten in verschiedenen Konstellationen auf, wie und warum sie sich kennen oder jetzt gerade getroffen haben, ist nebensächlich – und dann verschwinden sie wieder, die meisten irgendwann ganz. Handlungsstränge verlieren sich im Dickicht der Episoden. Ab und zu sind die nachlässig-kunstvoll gedrechselten Sätze von einer Originalitäterei, dass sie im Dienst der erzählten Sache nicht funktionieren wollen. Man stolpert, liest zweimal, dreimal, beginnt zu blättern, um Bezüge zu finden, verliert sich im Text, der nicht Roman werden will.

• Nicht nur dem Autor anzulasten ist die Grauzone, die sich im Text zwischen gekonnter Schnoddrigkeit und lektoratsbedürftigen Fehlern öffnet. Uneindeutigkeit kann originell sein. Aber in einem Buch, in dem es zu viele eindeutige Tippfehler gibt, sind gewollte Uneindeutigkeiten beim Lesen schwierig als solche zu erkennen. Mag sein, der Autor wollte wirklich schreiben: die Polizeikollegen, die andere Polizisten «unter der Schweizer Fahne zugedeckt vorfahnden» (S. 229). Aber wenn daneben das mehrfach erscheinende «Raiffeisen» einmal als «Raiffeneisen» (S. 167), die «Haschhasch»- als «Haschasch»-Gruppe (S. 64), die Innenstädte als «Innenstätte» (S. 155), der «Chäsbrätel» als «Chräsbrätel» (S. 204), der Wanderwegweiser als «Wanderwegeiser» (S. 232) angesprochen wird, dann braucht es schon ein «feines Gespürt für die Surrealitäten» (S. 230), um sich nicht über die Vertippereien zu ärgern. Umso mehr als am Schluss des Buches eine ganze Reihe von «Wiederleser*innen der Texterei» verdankt wird. Wer sich mit soviel Ambition wie Sasdi um Sprachoriginalität bemüht, läuft Gefahr, lernen zu müssen, dass gut gemeint schnell das Gegenteil von gut ist.

Ist Sasdi ein Musiker?

Trotz dieser Kritik und trotz der manchmal mühsamen Lektüre muss ich zugeben: Ich möchte es nicht missen, dieses Buch gelesen zu haben. Denn dass Sasdi ein origineller und virtuoser Autor ist, steht ausser Zweifel. Und auch, dass sein Buch eine bedenkenswerte, kritisch solidarische Satire ist auf das revolutionäre Potenzial mittelständisch-drogenverladener Wohlstandsverwahrloster in einer Stadt wie Bern.

Zweifeln kann man allenfalls daran, ob Sasdi ein Romanautor ist. Mag sein, er ist eher ein Aphoristiker. Oder ein Lyriker. Oder ein Musiker, dem – wenn er schreibt – die Sprache zum betörenden Sound wird, der sich in den gelungenen Passagen sehr wohl auf Lesende überträgt. 

Nein wirklich, was hat dieser Michael Sasdi bloss geschrieben? Selber lesen! Aber subito, süsch verpassisch öppis.