«Im Auge, der Fisch»

von Jessica Allemann 29. November 2012

Schweben zwischen gebogenen Baumkronen, picknicken mit Freunden, schwatzen mit Fischen und flüchten vor Wolkenkratzern – das Künstlerkollektiv «Rückenlage» entführt ihr liegendes Publikum mit Musik, Fotografie und japanischer Poesie.

Zwei Dutzend Filzpantoffelpaare liegen ordentlich ineinandergesteckt und aufgereiht vor dem Atelier 114 des Progr, das heute nur mit Pantoffeln begangen werden darf. Ebenso ordentlich aneinandergereiht liegen auf dem Boden des ehemaligen Schulzimmers zwanzig bunte Luftmatratzen. Auf ihnen hocken, strecken und recken sich kurz vor Vorstellungsbeginn die Gäste. Manche liegen bereits ausgestreckt da und spähen gespannt an die Decke, wo sie sich bald drin verlieren sollen.

Ins Atelier eingeladen und daraus wieder entführt wird das liegende Publikum vom Kollektiv «Rückenlage». In ihrem aktuellen Programm «HAIKU 俳句» verbindet das Ensemble Musik mit Fotografie. Ausgangslage für Musik und Bild sind zwei Haikus, traditionelle japanische Dreizeiler. Das Publikum auf den Rücken gelegt haben die Musikerin Isabel Lerchmüller und der Fotograf Martin Bichsel erstmals 2009, inzwischen sind der Perkussionist Manuel Pasquinelli und der Komponist Patrik Lerchmüller dazu gestossen. «Es ist nicht nur bequem, zu liegen», erklärt Isabel Lerchmüller den Vorteil der Rückenlage, «durch die Entspannung taucht man noch mehr in die Eindrücke ein – und hebt gleichzeitig ab.»

Vom Zwiegespräch mit Karpfen und anderen Klängen

Tatsächlich heben die Gäste, die sich eben erst auf die Luftmatratze gelegt haben, ab. Mit Blick gen Decke, wo jetzt zur ersten Zeile des Frühlings-Haikus Bichsels schlichte Bilder von Baumkronen erscheinen und zum luftigen Klang der Shakuhachi, der japanischen Bambusflöte, der Frühling verabschiedet wird.

Abschied des Frühlings, Vögel weinen und Tränen, im Auge, der Fisch.

Matsuo Bashō (1644–1694)

Entspannt gleitet man über Wasserspiegel und einen geschäftigen Schwan hinweg, beobachtet ein sommerliches Picknick unter Freunden und taucht ab in eine geheimnisvolle Unterwasserwelt. Hat dieser freundliche Fischkoloss gerade gegrüsst? Was murmeln seine Begleiter da im Hintergrund? Die kühlen Farben der Bildkompositionen kontrastieren mit den skurrilen Fischgesichtern und den warmen und dunklen Klängen. Die ebenfalls nicht ganz von dieser Welt zu kommen scheinen. Und die einen dazu verleiten, zu den Musizierenden zu schielen, wo Patrik Lerchmüller gerade einer riesigen Muschel Töne entlockt, welche authentischer nicht sein könnten.

Dass man die Musiker im Liegen nicht sehen kann, sei ein weiterer Vorteil des «hingelegten» Publikums. «Auf diese Weise hört man ganz anders hin, und die Musik umgibt einen komplett.» Patrik Lerchmüller komponierte die Musik auf der Grundlage der zwei ausgewählten Haikus, setzte sich mit der japanischen Musiktradition auseinander und übersetzte «seine persönliche Deutung» der Gedichte in Rhythmen, Klänge und Stimmungen. Pro Gedichtzeile ist ein Stück entstanden. «Die Musik ist minimalistisch, so wie die Haikus», erklärt er. «Sie soll Raum lassen für die Fotografie und trotzdem Emotionen auslösen. Und die Leute sollen das Gefühl haben, dass mit ihnen etwas geschieht – auch physisch.»

Flucht in die Gegenwart

Tatsächlich stellt sich ein sonderbares Körpergefühl ein, wenn man so da liegt. Am Boden. Die Grenzen zwischen Musik und Bild verschwimmen zusehends, man schwimmt, fliegt, fällt und wundert sich über die gleichzeitige Bodenhaftung, die einem dabei bleibt. Isabel Lerchmüllers Spiel auf der Sakuhatchi und den Querflöten trägt mit luftig leichten Tönen, zieht mit scharfen und geraden Lauten und überrollt mit wuchtigem und mehrschichtigem Schall das liegende Publikum. Zeile um Zeile, Schicht um Schicht tun sich Haiku und Musik auf und geben gerade genug, um die Neugierde lebendig zu halten aber zu wenig, um sich orientieren, es verstehen, zu können.

Gräser des Sommers,
von allen stolzen Kriegern,
die Reste des Traums.

Matsuo Bashō (1644–1694)

Baukräne, die «stolzen Krieger», ziehen einen fort vom sommerlichen Idyll bis vor die Füsse aufragender Hochhäuser des Tscharnerguts. Ihre beleuchteten Fenster starren von der Decke, ihre Kamine scheinen giftige Dämpfe auszustossen. Bedrohliche, gleichmässige Paukenschläge zertrampeln ausserdem die Behaglichkeit, die einen eben erst noch eingelullt hat. Es bleibt letztlich nur die Flucht in die Gegenwart mit den Konfetti verhangenen Portraits, welche Bichsel am Zibelemärit eingefangen hat. Und es bleiben einem die «Reste des Traums», die Frage, was es denn jetzt mit einem gemacht hat. Auch physisch. Und das ist gut so. Denn ein gutes Konzert soll schliesslich Fragen offen lassen und das Publikum weiterdenken lassen, findet Manuel Pasquinelli, «so wie ein gutes Haiku das auch macht».