«Das Archiv ist nichts Staubiges, das pure Gegenteil ist der Fall. In einem Archiv tut sich die Welt auf und nicht zu», sagt Peter Moser, Initiant und Leiter des 2002 gegründeten Archivs für Agrargeschichte (AfA). Durch das Sammeln, Bewerten und Zuführen in eine systematische Ordnung können Quellen in einen Kontext gebracht werden. Alte Fotografien, private und geschäftliche Briefe, Sitzungsprotokolle, Pläne und Plakate, auch Tagebucheinträge und Tonbänder – all dies in Laufmeter gemessen – finden so den Weg als Archivalien in ein Archivgut. Dieses verbreitert den Blickwinkel, den wir auf eine bestimmte Zeit haben, und ermöglicht es, aus den Bruchstücken von Informationen, welche diese Quellen beinhalten, neues Wissen zu generieren.
Wissen, das uns verständlicher macht, wie, unter welchen (gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen) Bedingungen und bestenfalls auch weshalb man zu einem bestimmten Zeitpunkt auf welche Lösung gesetzt hat. «Das Nachvollziehen der mittels Archivalien aufgedeckten Prozesse ermächtigt uns heute, in Optionen zu denken und verschiedene Lösungsansätze in unsere Auseinandersetzung mit einer Problematik in Betracht zu ziehen», erklärt Moser. «Wer eine Entscheidung trifft, übernimmt immer auch die Verantwortung für die getroffene Wahl. Archive liefern die nötigen Informationen dazu.» Dies sei gerade heute besonders wichtig, findet Moser, wo man immer wieder, besonders in der Politik, zu hören bekomme, dass jeweils nur eine Lösung zielführend sei, und man diese nun möglichst effizient umzusetzen habe. «Die Informationen, welche den Archiven entnommen werden können, tragen ihren Teil dazu bei, sich eine geistige Freiheit erhalten und dauernd zwischen Alternativen frei wählen zu können.»
Nicht für nichts und niemanden gearbeitet
Alle möglichen Erzeugnisse menschlichen Schaffens – handschriftliche Notizen und dahin gekritzelte Skizzen ebenso wie sauber geführte Protokolle und gut dokumentierte Chroniken – können für einen Archivar oder eine Archivarin relevant sein und für ein Archivgut eine entscheidende Ergänzung darstellen. «Mich stimmt es immer traurig, wenn mir eine Person am Ende ihres Arbeitslebens anvertraut, dass sie das Gefühl habe, alles, was sie geleistet habe, sei für nichts gewesen», erzählt Moser. «Das ist auch eine Negation der eigenen Persönlichkeit, was nicht richtig ist.» Die Zusammenarbeit von Archivmitarbeitenden und den Urheberinnen und Urhebern respektive deren Bewahrern generiere ein neues Bewusstsein über den Wert der geleisteten Arbeit, ergänzt Martina Ineichen, wissenschaftliche Mitarbeiterin des Afa. Die Archivarin wird oft in die aktenbeladenen Keller der auftraggebenden Organisationen und Institutionen geführt und beginnt in manchmal jahrelanger Arbeit ein Vertrauen der Verantwortlichen sowie eine sinnvolle Struktur des Archivguts aufzubauen. Die Erkenntnis, dass alles, was ein Mensch macht, auch einen Wert hat, stehe am Anfang einer Selbstreflexion und einem neuen Verhältnis zu sich und seiner Arbeit. «Dann erkennt man, dass man eine Geschichte hat, dass man jemand ist und eine Leistung erbracht hat, die einen selber überdauert», sagt Moser. Diese neu empfundene Wertschätzung, die einem durch eine mögliche Archivierung der eigenen Arbeit entgegengebracht wird, und das neue Bewusstsein gegenüber der eigenen Vergänglichkeit, führe nicht selten auch zu einem gesteigerten Verantwortungsbewusstsein gegenüber der eigenen geleisteten Arbeit.
Wie Quellen von gestern das Leben von morgen prägen
In Abgrenzung zu öffentlichen Archiven, dem Bundesarchiv, den kantonalen oder gemeindeeigenen Archiven, welche die staatlichen Aktivitäten dokumentieren und lange das Schriftmonopol innehatten, gibt es seit Ende des 19. Jahrhunderts eine wachsende zivilgesellschaftliche Aktivität im Bereich der Archivierung. Die Entstehung dieser unabhängigen, thematisch spezialisierten Archiven, wie sie das Afa, das Sozialarchiv in Zürich oder das Wirtschaftsarchiv in Basel sind, deutet immer auch auf einen gesellschaftlichen Diskurs hin. Das Sozialarchiv und das Wirtschaftsarchiv stammen von den Anfängen dieser staatsunabhängigen Archivtätigkeiten – sind also beide gerade 100 Jahre alt geworden – das Archiv zur Geschichte der schweizerischen Frauenbewegung der Gosteli-Stiftung gibt es seit 30 Jahren, im Agrarbereich gab es bis vor zehn Jahren keine ähnlichen Bestrebungen.
«Geschichte geht alle etwas an, und wir alle brauchen Quellen, um Erkenntnisse zu gewinnen.»
Peter Moser, Leiter des Archivs für Agrargeschichte
Die Zeit für ein Spezialarchiv muss reif sein, dem Thema durch die Gesellschaft eine gewisse Relevanz zugesprochen werden. So ist es wohl kaum einem Zufall zu verdanken, dass das Archiv zur Dokumentation der schweizerischen Frauenbewegung seinen Anfang in den 1970er-Jahren nahm. Auch dem Archiv für Agrargeschichte bietet eine gesellschaftspolitische wie emotionale Debatte ein Fundament: «Das Afa ist eine Antwort auf die Diskussion darüber, welche Funktion die Landwirtschaft in der Schweiz wahrnehmen soll», sagt Moser, Gründer des Archivs. Herrschte bis in die 1990er-Jahren breiter Konsens darüber, dass die Landwirtschaft der Ernährungssicherung für die nichtlandwirtschaftliche Bevölkerung diene, so wurde diese Funktion im Zuge der weltweiten Veränderungen, der Globalisierung, auf einmal in Frage gestellt. «Es wurden neue Funktionszuschreibungen thematisiert, und es entstand eine sehr konfuse, unaufgeklärte Diskussion mit vielen Wunschvorstellungen, denen eine konkrete Basis fehlte», erzählt Moser. Das habe das Bedürfnis nach einem Agrararchiv gestärkt. «Jetzt kann die Diskussion über mögliche Funktionen der Landwirtschaft auf theoretisch reflektierte Quellen abgestützt werden», so Moser. Ein Beispiel dafür, wie Quellen von gestern, das Handeln von heute und damit das Leben von morgen prägen können. Oder in den Worten des Archivleiters: «Geschichte geht alle etwas an, und wir alle brauchen Quellen, um Erkenntnisse zu gewinnen. Denn von der Zukunft kann man nicht lernen, man kann sie höchstens deuten. Quellen machen die Deutungen genauer und korrigieren falsche Vorstellungen.»