«Ich besuche ungern Orte in der Innenstadt», schreibt Fabienne Sieger per E-Mail auf die Frage, wo man sich für ein Gespräch treffen wolle. Man einigt sich auf ihr Zuhause in einem ruhigen Berner Aussenquartier, wo sie mit ihrem Partner und ihren Kindern, der Hündin Charlotte und den Katern Peter und Hugo lebt. Obwohl – so ruhig sei es in letzter Zeit da auch nicht: Aufgrund von Strassenarbeiten gegenüber habe sie in der Wohnung momentan meistens Kopfhörer auf.
Fabienne Sieger befindet sich auf dem Autismus-Spektrum. Das äussert sich bei ihr unter anderem darin, dass sie auf Reize wie eben laute Geräusche mit Stress reagiert. «Statt das grosse Ganze wahrzunehmen, muss ich alles, was um mich herum passiert, einzeln einordnen», erklärt sie.
Sortieren ist nicht aufräumen
Dieses ständige Einordnen braucht Kraft und ist ermüdend. Umso erstaunlicher, ordnet die Heilpädagogin auch in ihren künstlerischen Arbeiten – und zwar zur Erholung. Ihre Sortagebilder, wie Sieger sie nennt, zeigen etwa minuziös geschnittene Lebensmittel, akribisch nach Grösse und Farbe sortiert und zu einem Quadrat arrangiert. Manchmal sind das Zutaten eines Gerichts, etwa eines Artischockenpestos, eines Couscoussalats oder einer Kartoffel-Lauchsuppe. Aber auch Gummibärli, Katzenfutter oder Globuli sortiert die Künstlerin nach ihren Merkmalen. Immer zu einem Quadrat. Ihre Bilder hat die 38-Jährige bereits im Buch «Einsortiert. Fragmente aus dem Leben einer Sortagefachfrau» versammelt und veröffentlicht.
Eine Kursteilnehmerin hat einmal ihr Gemüse zu einem Kreis sortiert. Diese Form würde ich niemals wählen.
Wer jetzt glaubt, Sieger räume auch im Alltag gerne auf, irrt sich. «Darin bin ich nicht besonders gut.» Aufräumen sei viel komplexer als Sortieren, weil alles über mehrere Räume hinweg seinen Platz habe. Lieber ordnet sie Einzelteile ganz bewusst und in einem begrenzten Rahmen. Jedenfalls, was den Raum angeht. Zeitlich sprenge sie den Rahmen beinahe immer, wenn sie dem Sortieren verfällt.
Ihre Sortage-Technik gibt Fabienne Sieger schon seit einer Weile im Atelier Creaviva des Zentrum Paul Klee an Erwachsene weiter. Da musste sie bald merken, dass Sortieren gar nicht unbedingt einer einzigen Logik folgt. Etwa, wenn es ums Planen der «Sortage» geht. Dass einige wild drauflos ordnen, verwunderte sie zu Beginn. Aber auch, dass das Quadrat nicht bei allen ein Muss ist: «Eine Kursteilnehmerin hat einmal ihr Gemüse zu einem Kreis sortiert. Diese Form würde ich niemals wählen», sagt sie und lacht.
Weil für Sieger soziale Interaktionen, gerade mit Menschen, die sie nicht kennt, mit Stress verbunden sind, habe sie vor jedem Kurs Lampenfieber. Dank ihrer genauen Planung sei es dann immer weniger schlimm als erwartet. Den Teilnehmenden liest sie dazu vor jedem Kurs folgenden Text vor: «Erst suhlte ich mich intensiv in der Freude über die Gelegenheit, fürs Zentrum Paul Klee kursieren zu dürfen. Mindestens zehn Minuten lang. Dann wechselte ich nahtlos in einen Modus, den man eher als blanke Panik beschreiben und mit einigen Schweissausbrüchen hie, nagenden Selbstzweifeln da und der Frage, wie ich überhaupt auf den Hirnriss einer Zusage gekommen bin, zusammenfassen könnte.»
Späte Erleichterung
Erst mit Anfang zwanzig erhielt Fabienne Sieger ihre Diagnose. «Typisch», meint sie trocken. Weil das ruhige, in sich gekehrte Mädchen dem Stereotyp entspricht, werden Frauen seltener mit einer Autismus-Spektrum-Störung diagnostiziert, oder erst dann, wenn sie an einer Depression leiden. Erleichterung beschreibe am besten, was sie nach ihrer Diagnose fühlte. Endlich wusste sie: Es gibt einen Grund dafür, dass sie zum Beispiel vor der Tür eines Sitzungszimmers stehen bleibt, weil sie überlegen muss, ob Anklopfen und Eintreten, Anklopfen und Warten oder doch einfach direktes Eintreten angebracht ist. «Die Diagnose befreite mich vom Gedanken, ich müsse mich nur zusammenreissen, um nicht anders zu sein.»
Feingefühl fürs Detail
Seit Fabienne Sieger denken kann, beobachtet sie und hält fest, was sie wahrnimmt. Schon immer hatte sie eine Vorliebe für Reflexionen, Schattenwürfe oder Strukturen, die sie in ihrer Umgebung findet. «Mir war anfangs nur nicht klar, dass das Kunst ist.» Erst nach und nach, als sie begann, diese Szenen zu fotografieren und ins Netz zu stellen, wurde ihr bewusst: «Das ist jetzt wohl eine Art künstlerischen Schaffens.»
Ein wiederkehrendes Motiv in den Werken Siegers ist das Wasser. «Ich mag die Wasseroberfläche, wie sie sich bewegt, wenn ein Stein reinfällt oder wenn sich etwas darin spiegelt.» Was neurotypischen Menschen, die Reize um sich herum unterbewusst verarbeiten, schnell mal entgeht, fängt Fabienne Sieger mit der Handykamera ein. Das kann neben dem Aarewasser oder einer Pfütze auch der Schatten eines Baumes sein, der auf eine Hauswand fällt. Oder ein Spinnennetz. Wer ihre Fotografien – quadratische, versteht sich – betrachtet, merkt, wie viel Schönheit manchmal im Einfachen steckt. Fabienne Sieger gibt ihr Feingefühl fürs Detail weiter und nimmt im Creaviva-Kurs «Alltägliches im Quadrat» mit auf die gemeinsame Suche nach Formen, Mustern und Spiegelungen in der Natur.
Die Diagnose befreite mich vom Gedanken, ich müsse mich nur zusammenreissen, um nicht anders zu sein.
Das Viereck mit gleichlangen Kanten – es ist immer irgendwo zu finden in den Arbeiten Siegers. Und auf ihrem Körper: Eine Tätowierung einer würfelartigen Konstruktion ziert ihren Unterarm. «Ah, das? Diese Würfelgefüge zeichnete ich oft während der Vorlesung in die Quadrate meiner Notizblätter.»
Was sie eigentlich von den Werken Paul Klees, der seine Rechtecke und Dreiecke eher unsortiert beliess, halte? Sie könne den Wert seiner Kunst zwar nachvollziehen, sagt Sieger. «Aufhängen würde ich seine Bilder aber nicht.»