«Ich wusste: Hier will ich mal arbeiten»

von Susanne Leuenberger 22. Juni 2022

Mit dieser Spielzeit verabschiedet sich Maike Lex als Leiterin des Schlachthaus Theaters. Im Gespräch erinnert sie sich an Schlüsselmomente auf der Tribüne und im Tscharnergut, was schmerzte und worauf sie sich freut.

Maike Lex, Sie räumen Ihr Büro nach 12 Jahren. Da kommen Erinnerungen auf.

Und wie! Das Schlachthaus war gut zu mir. Mir wird auch jetzt klar: Der Ort hat gepasst. Ich erinnere mich ans erste Mal, als ich als Zuschauerin hierherkam. Das war Anfang der 2000er-Jahre, da war ich noch Regieassistentin am Luzerner Theater. Ich habe mich sofort ins Haus verliebt und soll damals gesagt haben: Hier will ich mal arbeiten.

Was hat Sie fasziniert?

Ich sah, wie viele Möglichkeiten dieses grosse kleine Theater, dieser Raum, bietet. Man muss hier, im Gegensatz zu einem Stadttheater, nicht jeden Abend 1300 Leute in den Saal bringen, wir können auch mal vor 50 Leuten spielen. Das gibt Freiheiten, auszuprobieren und auch mal zu scheitern. Und da ist diese Unmittelbarkeit, diese Nahbarkeit, mit der man die Menschen erreicht. Mir liegt diese Form. Hier finden Leute ins Theater, die sonst nicht kämen.

Sie holten 2016 auch schon mal aus Syrien geflüchtete Menschen mit Bussen aus Flüchtlingszentren ins Schlachthaus – für ein arabisch­sprachiges Stück.

Die Produktion «While I was waiting» handelte davon, wie der Krieg das Leben einer Familie in Damaskus radikal unterbricht und zerstört. Mir ist wichtig, die Menschen ins Theater zu bringen, für und über die Geschichten erzählt werden. Es war uns klar, dass die Geflüchteten nur kommen, wenn wir sie unterstützen. Als Regisseur Mohammad al-Attar und die Schauspieler*innen dann so viele Landsleute im Publikum sahen, waren sie selber erstaunt. Auch für sie war das eine ungewöhnliche Erfahrung. Wenn man mit Vielsprachigkeit experimentiert, passiert viel Ungeplantes.

Zum Beispiel?

Wir hatten etwa albanischsprachige Produktionen, die deutsch übertitelt waren. Als die Zuschauenden zu ihren Plätzen gingen, rief jemand: «Albaner*innen in die vorderen Reihen, Schweizer*innen in die hinteren», weil man von den höher gelegenen hinteren Reihen besser die Übertitel im Blick hat. Der ganze Saal musste lachen, weil es die soziale Hierarchie umdrehte. Solche Momente, wo diese Dinge aus der Situation einfach passieren, die liebe ich.

Wir haben mehr Raum, um Dinge neu zu denken und auszuprobieren, weil wir nicht die Massen brauchen.

Das Schlachthaus Theater ging auch immer wieder an die Peripherie Berns. Zum Beispiel mit dem Format Schlachthaus Theater im Quartier, das sich an Kinder und Jugendliche richtet und sie einbezieht. Da besuchten Sie das Tscharni oder Wittigkofen. Was war hier das schönste Erlebnis?

Es gab viele. Eindrücklich war, wie zwei Sieben- oder Achtjährige im Tschar­nergut mit einem Flyer in der Hand, aber ohne Geld und Eltern auftauchten und fragten, ob sie das Theater auch besuchen dürfen. Sie hatten den Weg ganz alleine zu uns gefunden. Toll!

Ihr Theater greift politische und gesellschaftliche Themen auf und löst die klassische Unterscheidung von Bühne und Realität auf. Auch die grossen Häuser öffnen die Türen für Geflüchtete und holen Politik auf die Bühne. So wird in den Vidmarhallen im Herbst ein dokumentarisches Theater zum Thema Hunger zu sehen sein. Kommen Sie sich manchmal wie eine Stichwortgeberin vor?

Die freie Szene war schon seit jeher experimenteller und damit Trendsetter. So funktioniert es eben. Wir haben mehr Raum, um Dinge neu zu denken und auszuprobieren, weil wir nicht die Massen brauchen. Milo Rau hat ja unter anderen auch im Schlachthaus Theater begonnen und inszeniert nun an ganz anderen Orten. Das ist doch toll. Ich gehöre nicht zu denen, die sich nerven und von Vereinnahmung reden, wenn neue Formen sich etablieren und grosse Häuser diese für sich entdecken.

Sie sprechen versöhnlich über Ihre Zeit im Schlachthaus Theater. Holprig war es trotzdem manchmal. Etwa Mitte der 2010er-Jahre, als die Stadt Bern Ihnen die Fusion mit der Dampfzentrale verordnen wollte. Gab es da keine schlaflosen Nächte?

Ach ja, die gab es natürlich, da haben wir dran rumgebissen, aber ehrlich, das ist längst verjährt und vergessen und letztendlich ist daraus eine gute Zusammenarbeit mit der Dampfzentrale geworden. Wenn Sie mich fragen, was mich am meisten plagte, dann war das die Pandemie: das geschlossene Theater, das Krisenmanagement und die Unsicherheit, ob wir je wieder die Masken weglassen und vor Publikum spielen können. Und ganz persönlich waren es die Verluste von Menschen, die mir wichtig und nah waren. Der Tod von Trix Bühler, die lange das Festival Auawirleben leitete, und der von meiner langjährigen Co-Leiterin Myrjam Prongué.

Was bedeuteten die zwei für Sie?

Trix hat mich gelehrt, immer offen zu bleiben für Neues. An Myriam denke ich oft, durch sie habe ich viel von diesem Theaterbetrieb verstanden, aber auch ihre Aufrichtigkeit und ihr Sinn für Gerechtigkeit waren zentral für mich.

Es war unter anderem Ntando Cele, die das Aufwachen aus Happyland mitanstiess.

Seit letztem Jahr haben das Schlachthaus Theater und die Dampfzentrale mit der Schwarzen Künstlerin Ntando Cele eine Beauftragte für Diversity and Racism. Damit sind Sie in Bern Pionierin. Worum genau geht es?

Um ganz vieles: Rassistische Mikroaggressionen erkennen und dafür arbeiten, dass sie weniger werden, der strukturellen Benachteiligung nichtweisser Künstler*innen entgegenwirken, mehr Produktionen von BiPoC machen, die Abbildung von mehr Perspektiven. In wenigen Worten ausgedrückt: dass wir als Institution «Happyland» verlassen.

Happyland?

Damit ist der Zustand einer Ahnungslosigkeit gemeint, mit der gerade viele Linke und Progressive auf die Welt blicken, wenn sie sich aus dem Rassismus rausnehmen und glauben, nichts damit zu tun zu haben. Er ist aber tief in unseren gesellschaftlichen Strukturen drin, «weisse» Menschen nehmen ihre Privilegien gar nicht wahr. Das zu merken, war schmerzhaft, auch für mich persönlich. Es war unter anderem Ntando Cele, die dieses Aufwachen aus Happyland mitanstiess. Sie hatte bereits einige Produktionen bei uns im Schlachthaus Theater gezeigt und kam auf uns zu mit der Idee, auch andere BiPoC dabei zu unterstützen, Zugang in die «weissen» Institutionen zu finden.

Wie geht das?

Indem wir nichtweisse Künstler*innen proaktiv fördern. Für die «ArtBlackForm» haben wir 2020 eine konkrete Ausschreibung gemacht. Es war toll, am «Oh Body»-Festival 2021 das Tanzstück «Perspectives» der Schwarzen Künstlerin Anna Chiedza Spörri aus Bern auf der Bühne zu erleben, in dem der Körper und die Perspektive von People of Colour im Zentrum stand. Das hat auch die Zusammensetzung des Publikums beeinflusst.

Sie glühen immer noch für das Theater. In Ihrer Schlachthaus-Zeit kamen Sie kaum zum Inszenieren. Haben Sie wieder Lust darauf?

Ja, vielleicht packt mich auch das wieder – ich habe beispielsweise Ideen für ein Stück für Kinder und Erwachsene, das aus verschiedenen Perspektiven dieselbe Geschichte erzählt. Da ist der Wunsch, möglichst viele Stimmen und Blickwinkel in eine Produktion reinzubringen. Das kribbelt mir gleich, wenn ich davon erzähle. Aber erst mal nehme ich mir eine Auszeit, ich will ausruhen, mich weiterbilden und schauen, was wächst. Ich habe ja Erfahrung in vielen Bereichen: Management, Künstlerische Arbeit, Produktion und Vermittlung. Ich lasse das alles auf mich zukommen.

Nun gehen Sie mit einem rauschenden Fest. Was wünschen Sie dem Theater nach Maike Lex?

Ich habe das Glück, das Haus in die guten Hände von Maria Spanring, Lisa Marie Fix und Ute Sengebusch zu geben und eine Saison zu beenden, die die Leute wieder ins Haus brachte, das ist nicht selbstverständlich. Ich glaube und vertraue auf den Ort und das Publikum. Im Schlachthaus Theater haben wir keinen Guckkasten, keinen Nimbus, keine grosse Bühnenmaschinerie. Das Publikum begegnet sich auf der Bühne selbst. Das mögen die Menschen, und das brauchen sie. Und genau das wünsche ich dem Haus und dem Publikum weiterhin.

 

Interview: Susanne Leuenberger und Louisa Dittli