«Ich will die Menschen aussetzen»

von Susanne Leuenberger 27. Oktober 2022

Mit seinem Werkzyklus «De Angelis» verabschiedet sich Daniel Glaus als Münsterorganist und HKB-Dozent. Ein Gespräch darüber, wie die Lücke zwischen Himmel und Erde klingt, und über die Ähnlichkeit von Mensch und Orgel.

Sie sagten einmal, jedes Instrument brauche einen Menschentypen. Was für einen braucht die Orgel? Oder anders gefragt: Wer ist Daniel Glaus?

Das fragen Sie besser meine Mitmenschen. Aber ich kann versuchen zu erklären, was mich an ihr fasziniert. Wenn ich sie spiele, ist mein ganzer Körper involviert. Die Orgel ist ein ganzes Universum. Im Grunde ist jedes Register ein eigenes Instrument. Die grosse Münsterorgel hat 71. Ich kann wuchtig darauf spielen, aber auch unendlich fein. Wie ich die Taste antippe, hat einen Effekt auf den Klang, den die Luftschwingung in der Pfeife erzeugt. Je schneller ich es tue, desto mehr Obertöne werden angeregt.

Sie spielen die Münsterorgel seit 16 Jahren. Haben Sie ein Liebesverhältnis zu ihr wie ein Geiger zur Stradivari?

Das hat was. Wir kennen uns in- und auswendig, und ich meine sagen zu können, dass uns eine Freundschaft verbindet. Ich habe den Eindruck, dass sie mich beim Spielen unterstützt, wir streben gemeinsam nach dem bestmöglichen Klang. Der Abschied von ihr fällt mir schwer. Glücklicherweise darf ich einen Schlüssel zum Münster behalten.

Ab und zu werde ich mich bestimmt an die Münsterorgeln setzen und spielen, wenn sonst niemand dort ist.

Gibt es eigentlich Parallelen zwischen dem Menschen und der Orgel?

Ich finde schon. Ich habe im Münster einmal eine Führung für Mediziner*innen gemacht und erklärt: Die Tasten mit ihren Verbindungen zu den Ventilen sind das Nervensystem, der Blasbalg ist die Lunge, die Register sind der Blutkreislauf, weil sie die Klangfarben erzeugen. Als ein Arzt wissen wollte, was denn der Verdauungstrakt sei, war ich erst überfragt.

Fanden Sie eine Antwort?

Die Hörer*innen!

Ihre Kindheit verbrachten Sie im Fischermätteli und im Tscharnergut. Wie fanden Sie zur Orgel?

Ich wuchs in bescheidenen, aber doch musikaffinen Verhältnissen auf. Meine Mutter sang im Kirchenchor. Eines Tages, da war ich etwa sieben, durfte ich sie begleiten. Die Organistin spielte, liess mich auf die Tasten drücken und ins Innere schauen. Ich war elektrisiert. Ich hatte mein Instrument gefunden, musste dann aber noch einen Umweg über die Blockflöte und das Klavier machen. Auf meine Konfirmationsfeier hin komponierte ich drei Orgelstücke. Aufgeführt wurde mein Werk dann nicht.

Warum nicht?

Die Organistin fand es wohl unpassend. Es war ziemlich «zeitgenössisch».

Eine Orgel steht meistens in der Kirche. Ist sie per se ein transzendentes Instrument?

In dem Sinne, dass sie alles im Raum ergreift, auch die Menschen zum Resonanzkörper macht, unbedingt. Ohnehin glaube ich, dass Kunst immer transzendent ist. Es ist ihre Natur, auf etwas zu verweisen, das nicht fassbar ist. Wenn ich spiele, will ich Menschen dem aussetzen.

Zum Abschied als Münsterorganist und HKB-Dozent erhielten Sie eine Carte Blanche. Sie wählten unter anderem die Wiederaufführung Ihres Zyklus «De Angelis». Eine Hommage an den Avantgardisten Luigi Nono. Warum Engel?

Sie begegneten mir Anfang der 1990er-Jahre, in einer existenziellen Zeit meines Lebens: Nono, der mich als Komponist stark prägte, starb fast zeitgleich mit der Geburt meines jüngsten Sohnes. Damals las ich Massimo Cacciari, Walter Benjamin und Rainer Maria Rilke. Sie alle schreiben über Engel, meinen dabei aber nicht unbedingt christliche. Eher sind sie Wesen eines Dazwischen, Boten des Absoluten, das sich entzieht und verbirgt. Bei Benjamin bewohnen sie einen Spalt in der Zeit und blicken auf eine Gegenwart in Trümmern. Sie bleiben dabei immer einige Zentimeter weg von der Welt. Aber diese Lücke ist notwendig, denn wir würden das Absolute nicht aushalten. Es wäre zu schön, aber auch zu erschreckend.

Wie klingt diese Lücke in Ihrer fünfteiligen Komposition?

In «De Angelis I», einem Stück für eine Orgel, sind das Abfolgen mächtiger Akkorde, regelrechte Klangsäulen, auf welche kaum erträglich ausgedehnte Stillen folgen. Es sind diese Leerräume, die uns Hörende auf uns selber zurückwerfen und die dann sukzessive von den Rändern her gefüllt werden, um das Nichts und den Schrecken zu kanalisieren. Das Werk «De Angelis V», eine Raummusik, spiele ich gemeinsam mit meinem Nachfolger, dem Organisten Christian Barthen, und dem Berner Kammerorchester. Dazu improvisiert der Klarinettist Hans Koch.

Ohnehin glaube ich, dass Kunst immer transzendent ist.

Stehen Engel auch für Ihre Kreativität als Komponist?

Ja, das Bild passt. Ich weiss oft nicht, woher eine Idee kommt. Das Flötensolowerk «Pasa Calle» etwa entstand, indem ich während drei Monaten jeden Tag die Noten für einen einzelnen Atemstoss auf eine Postkarte schrieb und sie gleich darauf einer Flötistin schickte. Den Ablauf der Komposition hatte ich bewusst aus der Hand gegeben. «Pasa calle» entstand sozusagen als Werk der Momente. Die Musikerin sammelte die Karten und fügte sie zum Stück. Die Flötistin Magdalena Zwahlen wird es übrigens am Freitagssymposium spielen.

Interessieren Sie sich eigentlich auch für Popmusik?

Ich habe keine Berührungsängste damit. Mein Sohn ist Rockmusiker, und zur Abdankung von Alexander Tschäppät spielte ich zusammen mit Trompeter Daniel Woodtli und Schlagzeuger Andi Hug «W. Nuss vo Bümpliz».

Was bisher nicht zur Sprache kam: Sie sind nicht nur Musiker und Komponist, sondern auch Erfinder winddynamischer Orgeln. Diese sind flexibel und relativ handlich. Sie lassen sich also gut transportieren. Wird man Sie auch mal in einem Club spielen hören?

Wer weiss? Ich sehe da durchaus interessante Möglichkeiten, beispielsweise mit Improvisation oder mit elektronischer Musik.

Worauf freuen Sie sich als Pensionierter?

Auf die viele Zeit. Aufs Spielen und Komponieren, Zeitverbringen mit meiner Familie, den Enkeln und Freunden. Und ab und zu werde ich mich bestimmt an die Münsterorgeln setzen und spielen, wenn sonst niemand dort ist.

 

Daniel Glaus nimmt Abschied

Mit einem dreitägigen Programm verabschieden sich der Verein Abendmusiken im Berner Münster, die Münsterkirchgemeinde Bern, die Hochschule der Künste Bern (HKB), das Vokalensemble Zürich und das Berner Kammerorchester von Daniel Glaus. Musikalisch im Zentrum steht die Wiederaufführung seines fünfteiligen Werkzyklus «De Angelis» (1990 bis 1993). Neben Konzerten am Donnerstagabend, Freitagabend und einer Kantatenvesper am Samstagabend findet am Freitagnachmittag ein Symposium mit Vorträgen von Theologin Magdalene Frettlöh, HKB-Dozent Roman Brotbeck und anderen über den Musiker und Komponisten Daniel Glaus statt. Dazu kommen kammermusikalische Werke zur Aufführung.

Die Abschiedsveranstaltungen finden vom 27. Oktober bis zum 29. Oktober statt. Das genaue Programm finden Sie hier.