«Ich vertrete die Interessen der 99%, nicht die einer Region»

von Yannic Schmezer 24. September 2019

Ex-JUSO-Präsidentin Tamara Funiciello versucht am 20. Oktober zum zweiten Mal den Sprung in den Nationalrat. Wir sprachen mit der Stadtbernerin über Umgangsformen und darüber, wie Bern sie politisch geprägt hat.

Tamara Funiciellos Woche ist vollgepackt, genauso wie der Rucksack, den sie mit sich herumträgt. Den brauche sie aber auch, erklärt die 29-jährige, denn zu Hause sei sie schon eine Zeitlang nicht mehr gewesen. Wahlkampf und Übergabe des JUSO-Präsidiums raubten ihr gerade viel Zeit. Trotzdem wirkt Funiciello nicht erschöpft, auch wenn sie sagt, sie freue sich auf einen etwas ruhigeren Spätherbst. Vorerst heisst es aber: «WTF! Wählt Tamara Funiciello». Es ist der Slogan, mit dem sie schon zur letzten nationalen Wahl 2015 antrat und nicht gewählt wurde. Jetzt aber stehen die Chancen besser als noch vor vier Jahren. Von 2016-2019 war Funiciello JUSO-Präsidentin und hat es zu nationaler Bekanntheit gebracht, hatte viele Medienauftritte und noch mehr -anfragen. Funiciello weiss wofür sie kämpft und sagt es immer wieder: «Für eine gerechtere Welt». Und das tut sie mit Eloquenz, Kompromisslosigkeit, Provokation und ohne Scheu vor Konfrontationen.

 

Tamara Funiciello, medial wirst du oft als Provokateurin bezeichnet. Siehst du dich auch selber so?

Ich glaube man muss sich vergegenwärtigen, wie einfach es ist, in dieser Gesellschaft zu provozieren. Sobald du irgendeine Idee bringst, die «out of the box» ist, drehen alle am Rad. Zum Beispiel das Foto, auf dem wir oben ohne posiert haben. Da wurde zwei Monate darüber berichtet und ich habe mich nur gefragt: Habt ihr noch nie eine Calzedonia Werbung gesehen? Habe ich also provoziert? Ja, aber man hat es mir auch unglaublich einfach gemacht.

Provokation als Mittel, um mediale Aufmerksamkeit zu erlangen?

Das Zentrum jeder Provokation muss die Botschaft dahinter sein. Die Provokation ist dabei der Türöffner, um gewisse Dinge ins Gespräch zu bringen. Über den Women’s March wurde vor dem Foto kaum berichtet und plötzlich musste darüber geschrieben werden. Provokation war in diesem Fall ein legitimes Mittel. 

Was ist mit den politischen Umgangsformen?

Man sollte in der Politik weniger über Stil sprechen, als über Inhalte. Bezeichnend dafür finde ich den Begriff «Rechtspopulist». Man tut so, als hätten Rechtspopulisten nur ein Stilproblem und vergisst dabei auf das zu hören, was sie sagen. Salvini zum Beispiel ist kein Rechtspopulist, Salvini ist ein Faschist. 

Du bist jetzt nicht mehr JUSO-Präsidentin. Was bedeutet das für deine politische Arbeit?

Als JUSO-Präsidentin muss man über praktisch jedes nationale politische Geschäft informiert sein. Ich erhoffe mir, mich jetzt mehr auf meine Kernanliegen konzentrieren zu können, sprich: Sozialversicherungen, Rückverteilung, Steuern und Feminismus.

Ausserdem möchte ich wieder zurück ins Lokale. Als JUSO-Präsidentin war ich wahnsinnig viel unterwegs, sieben Stunden Zugfahren pro Tag waren da keine Seltenheit. Ich bewegte mich konstant quer durch die Schweiz und hatte mit einer Menge verschiedener Leute zu tun. Das war sehr aufschlussreich. Trotzdem freue ich mich, dass mein Bewegungsradius jetzt wieder kleiner wird. 

Vor einem Jahr wurdest du in den Grossen Rat gewählt. Welche Bilanz ziehst du?

Ich habe überraschenderweise einige Geschäfte durchgebracht, zum Beispiel die Istanbul-Konvention. Das ist ein Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, dem die Schweiz 2018 beigetreten ist und das anerkennt, dass Gewalt gegen Frauen eine strukturelle Komponente hat und auf der gesellschaftlichen Ungleichbehandlung der Geschlechter beruht. Der Grosse Rat hat eine Motion zur Analyse und Umsetzung der Konvention im Kanton Bern angenommen – zur Freude der Frauenhäuser und «Terre des Femmes».

Auch die Nachtzug-Motion haben wir durchgebracht. Jetzt muss sich der Regierungsrat dafür einsetzen, dass wieder mehr Nachtzüge von und nach Bern fahren. Nachtzüge bedeuten einen Standortvorteil von dem die gesamte Bevölkerung profitiert und ausserdem sind sie ökologisch sinnvoll. 

Hast du jemals bereut, dass du dein Mandat als Stadträtin abgelegt hast?

Nein, ich fände es auch nicht richtig, auf allen Ebenen aktiv zu sein. Ein politisches Mandat ist anspruchsvoll. Man muss sich mit unterschiedlichsten Themen intensiv befassen, wenn man nicht einfach blind der Fraktion folgen will. Dafür wurde ich nicht gewählt.

Weshalb nun der Schritt in den Nationalrat?

Ich habe Lust auf nationale Politik, besonders die AHV-Reform ist mir ein grosses Anliegen. Ich will, dass sie sozial wird und ich will nicht darüber diskutieren müssen, ob wir sie uns leisten können. Manchen Parteien tun so, als ob wir uns nach einem Naturgesetz richten müssten. Dabei ist ganz klar, dass eine starke AHV ein politischer Entscheid ist! Und in einem Land wie der Schweiz, wo die 300 reichsten Menschen jährlich um 60 Milliarden reicher werden, können wir uns verflucht nochmal eine starke AHV leisten.

Auch Frauenthemen müssen unbedingt vorangetrieben werden. Gerade die Gewalt an Frauen muss dringend thematisiert werden. Um ein Beispiel zu nennen: Alle 25 Tage stirbt eine Frau an häuslicher Gewalt. Das ist eine Gewaltepidemie. Hier müssen nationale Entscheide getroffen werden, damit man dann kantonal die richtigen Nägel einschlagen kann. 

Gibt es auch stadtbernische Interessen, die du nationale einbringen möchtest?

Ich bin Sozialistin und Internationalistin, deshalb vertrete ich die Interessen der 99% und nicht die einer Region. Für mich gibt es keinen gesellschaftlichen Kampf zwischen Stadt und Land oder zwischen den Regionen, sondern nur zwischen oben und unten.

Aber politische geprägt hat dich die Stadt Bern schon?

Klar, sogar sehr stark. Die Stadt Bern hat eine ganz eigene politische Kultur. Als JUSO-Präsidentin war ich in den verschiedensten Regionen und Kantonen unterwegs aber eine Zusammenarbeit zwischen den ausserparteilichen Organisationen und den Parteien, wie sie in Bern stattfindet, habe ich nirgendwo sonst gefunden. In Zürich bekriegen sich die linken Gruppierungen. Die Listengestaltung zum Beispiel ist ein einziges Gemetzel. In Bern ist das nicht denkbar, stattdessen steht das gemeinsame Ziel im Vordergrund: eine gerechtere Welt. Man kämpft auf derselben Seite – wenn auch mit unterschiedlichen Mitteln. Das ist auch in meiner Politik ein wichtiger Grundsatz.

Ausserdem bestimmt die ausserparlamentarische Linke in Bern massgeblich mit, wie Politik gemacht wird. Man denke nur an die Reitschule. Durch diese enge Verzahnung begegne ich immer wieder Themen, denen ich in der Parteien-Bubble nicht begegnen würde.

Rechnest du mit einem Linksrutsch oder einer Klimawahl?

Ich glaube, die Linke hat diesen Oktober eine grosse Chance. Aber auch ein Penalty muss noch versenkt werden. Gleichzeitig muss man relativieren, denn was bedeutet schon ein «Linksrutsch»? Von einer linken Mehrheit im Parlament sind wir Meilenweit entfernt, egal was am 20. Oktober passiert.