«Ich verstehe die Angst der Kitas»

von Jessica Allemann 10. Juni 2013

Seit dem Wochenende ist klar: In Bern werden die Betreuungsgutscheine so eingeführt, wie der Stadtrat dies abgesegnet hatte. Das Stimmvolk hat sich klar für diese Variante ausgesprochen. Was der Umbau des Systems allenfalls mit sich bringt, zeigt das Beispiel Luzern.

Die Bildungswissenschafterin Ruth Feller-Länzlinger ist Bereichsleiterin «Bildung und Familie» der luzernischen Firma Interface Politikstudien Forschung Beratung. Von 2009 bis 2012 begleitete und beobachtete sie das Pilotprojekt in der Stadt Luzern (s. Kasten) aus einer wissenschaftlichen Perspektive. Die ehemals subventionierten und privaten Kitas der Stadt Luzern erlebten den Wandel von der Kita-Subventionierung hin zur finanziellen Unterstützung der Eltern mittels Betreuungsgutscheinen. Wir haben Ruth Feller-Länzlinger gefragt, wie der Systemwechsel in Luzern vonstatten gegangen ist. 

Welche Herausforderungen hatten die ehemals subventionierten Kitas bei der Einführung des neuen Systems zu bewältigen?

Ruth Feller-Länzlinger:

Vorher hatten diese Kitas eine Defizitgarantie und eine finanzielle Bevorschussung durch die Stadt. Das gab ihnen eine Planungssicherheit, die durch das neue System weggefallen ist. Neu mussten sich die Kitas im Markt positionieren, transparent wirtschaften und ihre Vorzüge den Eltern gegenüber kommunizieren. Früher war ein wichtiges Verkaufsargument «Wir haben subventionierte Plätze», heute überzeugen sie mit professionellen Strukturen oder einem speziellen Angebot.

Mit welchen Strategien begegneten die Kitas den neuen Herausforderungen?

Es kamen individuelle Lösungen zum Tragen. Die städtische Kita wurde von der Stadt als Trägerschaft abgelöst und von einer privaten Trägerorganisation übernommen. Einige Kitas erweiterten ihr Platzangebot, um auf die zunehmende Nachfrage reagieren zu können. Das Angebot wurde insgesamt umgestaltet und den Bedürfnissen der Eltern – also der Nachfrage entsprechend – angepasst. So fiel beispielsweise bei einigen Kitas der früher geforderte Mindestbetreuungsumfang von zwei Tagen weg, damit auch eintägige Betreuungsverhältnisse abgeschlossen werden konnten. Zudem wurden vermehrt auch Säuglingsplätze angeboten und entsprechende Betreuungskonzepte erstellt.

Welche Effekte hatte der Systemwandel auf die Kita-Landschaft?

Durch die Positionierung auf dem Markt wurde bei den Kitas eine höhere Kostentransparenz erreicht, Tarife gegen aussen offengelegt und die Wirtschaftlichkeit der einzelnen Betriebe ist gestiegen. Es lässt sich auch eine Professionalisierung in den Betriebsführungen, nicht nur in finanziellen Angelegenheiten, feststellen. Die Gutscheine gaben einigen Kitas einen grösseren finanziellen Spielraum, da mit dem Säuglingstarif die Kitas auch einen höheren Elterntarif einfordern konnten. Die Kitas mussten zudem weniger Ressourcen für die Administration einsetzen, da die Abrechnungsmodalitäten vereinheitlicht wurden, und hatten so mehr Zeit, sich um die Qualitätsentwicklung zu kümmern.

«Die soziale Durchmischung hat in den einzelnen Kitas zugenommen.»

Ruth Feller-Länzlinger, Bildungswissenschafterin

Weiter hat die soziale Durchmischung in den einzelnen Kitas zugenommen. Dies stellt Kita-Leitungen in gewissen Quartieren allerdings auch vor neue Herausforderungen in Bezug auf die Zusammenarbeit mit den Eltern. Insgesamt hat sich die Kita-Landschaft hin zu einer quantitativen und qualitativen Vielfalt entwickelt. Es wurden zum Beispiel unterschiedliche Konzepte eingeführt, mit denen sich die einzelnen Kitas voneinander abheben können.

Und die Auswirkungen auf die Wartelisten für Betreuungsplätze?

Die Wartelisten sind abgebaut, das Angebot an Betreuungsplätzen entspricht weitgehend der Nachfrage. Dies hängt aber auch damit zusammen, dass die Stadt Luzern insgesamt mehr finanzielle Mittel für den Ausbau des Angebots budgetiert hatte.

Werden in den Luzerner Kitas genügende Fachkräfte ausgebildet?

Wie überall gibt es auch in Luzern ein Manko an Ausbildungsplätzen. Die Stadt begegnet diesem Problem, indem sie Ausbildungsplätze in den Kitas finanziell unterstützt. Diese Ausbildungsbeiträge sind aber eine Massnahme, die ausserhalb des Betreuungsgutscheinssystems umgesetzt wird.

Wie hat sich die Preisstruktur entwickelt?

Es gab keine Preisexplosion. Die Preise haben sich einander angeglichen. Es gab vor dem Wechsel teilweise sehr günstige Plätze, die sich unter der Wirtschaftlichkeit bewegten, diese sind gestiegen. Manche Kitas haben ein spezielles Angebot, das sich in ihrer Preisgestaltung niederschlägt. Mit der Einführung eines Bébé-Tarifs bei den Gutscheinen unterschieden zunehmend auch die Kitas bei ihren Tarifgestaltungen nach dem Alter der Kinder. Zudem wurde oft eine Monatspauschale anstelle einer Tagespauschale eingeführt.

«Es gab keine Preisexplosion.»

Ruth Feller-Länzlinger, Bildungswissenschafterin

Städtische und subventionierte Kitas stehen den bevorstehenden Neuerungen eher skeptisch gegenüber. Was haben sie wirklich zu befürchten?

Ich verstehe natürlich die Angst der Kitas, die in die Unabhängigkeit entlassen werden. Ungleichheiten unter den einzelnen Betrieben werden durch die am Markt nötige Transparenz zu Tage kommen. Gut geführte Kitas werden durch die Einführung des neuen Systems nicht aus der Bahn geworfen. Die Stadt Bern hat viel in die Qualität der städtischen und subventionierten Kitas investiert. Diese Qualität können sie nun hervorstreichen.

Was raten Sie den heute subventionierten Kitas in Bern für die Überführung in das Gutscheinsystem?

Da es in der Stadt Bern lange Wartelisten gibt, wird auch die Auslastung anfänglich kein Problem sein. Die Nachfrage nach Betreuungsplätzen ist ja hoch. Zudem braucht der Markt eine gewisse Zeit, bis er spielt. Anders als in Luzern vor dem Gutscheinsystem hat Bern sehr viele subventionierte Kitas. Diese könnten gezielt nach möglichen Zusammenarbeitsformen suchen.

«Gut geführte Kitas werden durch die Einführung des neuen Systems nicht aus der Bahn geworfen.»

Ruth Feller-Länzlinger, Bildungswissenschafterin

In Trägerschaften mit einem grösseren Kita-Angebot können Ungleichheiten an verschiedenen Standorten besser ausgeglichen werden, falls eine Kita einmal etwas weniger gut läuft. Aber künftig wird eine Kita, die längerfristig nicht genügend ausgelastet ist, nicht überleben können. Die Erfahrung zeigt aber auch, dass Eltern nicht von heute auf morgen die Kita wechseln. Solange sie mit der Betreuung ihres Kindes in einer Kita zufrieden sind, möchten sie ihren Kindern eine derartige Umstellung nicht zumuten – auch wenn der Preis vielleicht etwas höher ist als anderswo. Auch das kann den Kita-Führungen eine vorläufige Sicherheit geben.

Worauf wird die Stadt bei der Umsetzung achten müssen?

Es ist wichtig, dass die heute subventionierten Kitas während der Einführungsphase unterstützt werden. In Luzern hat man die subventionierten Kitas eng begleitet und beraten, zum Beispiel darin, wie sie ihre Finanzierung und nötige Auslastung bewerkstelligen können. Dieses Angebot wurde rege genutzt und wertgeschätzt. Individuelle Übergangslösungen geben Zeit und Sicherheit, sich mit der neuen Situation auseinanderzusetzen und sich anzupassen. Dies ist auch im Interesse der Stadt, damit die Versorgung in den Quartieren möglichst erhalten bleibt.

Hat das Luzerner Modell Vorbildcharakter für Bern?

Die Grundvoraussetzungen bei der Einführung der Betreuungsgutscheine sind in Luzern und Bern unterschiedlich. Die Stadt Bern ist bei der Umsetzung an ein teilweise detailliertes Reglementarium des Kantons gebunden. Dies gab es in Luzern nicht. Die gesamte Umsetzung fand auf städtischer Ebene statt, dementsprechend grössere Freiheiten hatte man in der Ausgestaltung des Systems und bei der Begleitung individueller Übergangslösungen. Auch die Kita-Landschaft war in Luzern eine andere als sie es in Bern heute ist. In Luzern gab es gerade mal eine städtische Kita, einige kleine subventionierte und private. Der gesamte Prozess sollte gut begleitet und evaluiert werden.

«Der gesamte Prozess sollte gut begleitet und evaluiert werden.»

Ruth Feller-Länzlinger, Bildungswissenschafterin

Sowohl die Preisgestaltung, die Organisationsstrukturen, die faktische Umsetzung als auch die Wirkungen des neuen Systems sollten systematisch auf Ebene der Stadt (Umsetzung und Kostenentwicklung), der Kitas (Angebotsentwicklung, Qualität) und der Eltern (Nachfrageentwicklung) beobachtet werden. Dabei ist insbesondere auch dem Thema Qualität und Qualitätssicherung durch die Organe von Aufsicht und Bewilligung grosse Beachtung zu schenken. In Luzern hat sich dieses Vorgehen bewährt, innert kürzester Zeit konnte so auf Problemstellungen reagiert werden. So wurde zum Beispiel noch während der Pilotphase ein Geschwistertarif eingeführt.


Resultate vom 9. Juni:

Abstimmung Reglement über die familienergänzenden Betreuung von Kindern und Jugendlichen

 

 

 

 

 

Das Resultat ist eindeutig: Die Stadtratsvorlage des Betreuungsreglements wurde mit 15’591 Ja zu 12’235 Nein angenommen. Hingegen verwarf das Berner Stimmvolk den Volksvorschlag «Betreuungsgutscheine ja, aber fair» mit 14’596 Nein zu 12’951 Ja. In der Stichfrage schwang die Vorlage aus dem Stadtrat mit 14’414 Stimmen gegenüber 11’977 Stimmen für den Volksvorschlag oben aus. Die Stimmbeteiligung betrug 36,30 Prozent.

Bei rund 6500 betreuten Kindern auf rund 82’000 Stimmberechtigte in der Stadt Bern war das Mobilisierungspotenzial offensichtlich gering. Der Beschluss des Stadtrates fand in allen Stadtteilen mehrheitlich Zustimmung, am deutlichsten im Kirchenfeld, was angesichts der Struktur dieses Quartiers kaum zu überraschen vermag.

Das Kirchenfeld war zusammen mit Bümpliz auch dafür ausschlaggebend, dass der Volksvorschlag mehrheitlich abgelehnt wurde. Praktisch ausgeglichen war das Resultat im Stadtteil Mattenhof-Weissenbühl. Alle anderen Stadtteile hiessen auch den Volksvorschlag gut. In der Endabrechnung fällt dieser Umstand aber nicht ins Gewicht, da bei der Stichfrage mit Ausnahme des Breitenrains alle Stadtteile dem Beschluss des Stadtrates den Vorrang gegeben haben.