«Ich möchte auch mal an einem Montagabend ausgehen können»

von Yannic Schmezer 11. Oktober 2019

Claude Grosjean ist seit 2010 im Berner Stadtrat und hat diesen 2015 präsidiert. Dieses Jahr will der Jurist und Vizepräsident der Grünliberalen des Kantons Bern zwei Schritte weiter in den Nationalrat.

Dünner Regen fällt in langen Fäden aus der dichten Wolkendecke, die sich schon vor Stunden vor die Herbstsonne geschoben hat. Im Restaurant National in Bern sitzt Claude Grosjean mit einem Espresso an der Bar und erzählt, was ihn politisch umtreibt. Ein zentrales Thema sind bei ihm Steuern und Lenkungsabgaben – was nicht verwundert: Der Anwalt arbeitet bei der Eidgenössischen Steuerverwaltung und hat, wie eine kurze Internetrecherche zeigt, schon mehrfach zum Thema Steuerrecht publiziert. Immer wieder betont Grosjean, dass mit Abgaben mehr erreicht werden könne als mit Verboten. Für ihn scheint das ein wesentlicher Ausdruck einer liberalen Lebenshaltung zu sein – lenken statt verbieten. Am 20. Oktober tritt Grosjean zum ersten Mal als Nationalratskandidat für die Grünliberalen an.

 

Claude Grosjean, Sie kandidieren am 20. Oktober für den Nationalrat. Weshalb?

Ich bin im Berner Stadtrat jetzt in der dritten Legislatur. Die politische Arbeit finde ich nach wie vor hochinteressant. Gerne würde ich mich aber vermehrt auch um Themen kümmern, für die ein Gemeindparalment nicht zuständig ist, wie das Steuerrecht oder die Lärmschutzgesetzgebung.

Sie schreiben, Sie seien liberaler Urbanist. Was macht für Sie Urbanität, was Liberalismus aus?

Liberal heisst für mich nicht «laissez-faire», sondern, dass alle gleichlange Spiesse haben müssen. Dort wo das nicht der Fall ist, soll der Staat lenkend eingreifen. Bei der GLP betrifft das natürlich vor allem Umweltthemen, wo wir beispielsweise mit Lenkungsabgaben auf Treibstoffen eine umweltfreundlichere Mobilität herbeiführen möchten. Gelegentlich wird der GLP deshalb vorgeworfen, sie sei nicht liberal, weil sie  nicht möglichst wenig Regelung für die Wirtschaft wolle. Für mich wäre aber eine solche Handlungsweise eher libertär, nicht liberal.

Urbanismus ist für mich eine Geisteshaltung, die sehr stark mit dem Stadtleben zusammenhängt. Es geht zum Beispiel darum, dass man gerne in dicht besiedeltem Gebiet lebt, dass man es mag, wenn viel los ist, wenn verschiedenste Interessen unter einen Hut gebracht werden müssen, die Gesellschaft vielfältig ist und es gelegentlich zu Irritationen kommt. Das Leben auf dem Land – ich bin in Wichtrach aufgewachsen – hat mir nie entsprochen, da ist einfach zu wenig gelaufen. Ich möchte auch mal an einem Montagabend ausgehen können. 

Was ist mit gesellschaftlichem Liberalismus?

Natürlich verstehe ich mich auch als Gesellschaftsliberaler. Einen wichtigen Punkt sehe ich in der Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Lebensweisen – inklusive Adoption von Kindern. Für mich kommt es nicht darauf an, welches Geschlecht Personen in einer Beziehung haben. Des Weiteren bin ich auch für eine weitgehende Drogenliberalisierung. Es ist selbst gemachte Kriminalität, die den Staat unter dem Strich nur kostet. Ich gehe von mündigen Bürgern und Bürgerinnen aus, die selber entscheiden können, ob sie Drogen konsumieren wollen oder nicht. Natürlich braucht es eine Besteuerung wie heute bei Alkohl- und Tabak, um den negativen Folgen entgegenwirken zu können – ein Verbot ist aber keine Lösung.

Sie sind seit neun Jahren Stadtparlamentarier und haben den Stadtrat 2015 präsidiert. Welche Themen konnten Sie in dieser Zeit auf die Agenda bringen? 

Mir waren vor allem institutionelle Fragen wichtig. Einen zentralen Vorstoss habe ich mit Hasim Sancar von den Grünen eingereicht. Darin fordern wir eine unabhängige Finanzkontrolle, wie es sie auch auf kantonaler Ebene gibt. Die Finanzkontrolle in Bern ist dem Gemeinderat unterstellt. Das ist für die Aufsichtskommission, von der auch ich Teil war, ein Problem, weil wir so unsere Oberaufsicht kaum wahrnehmen können.

Ein weiteres Thema, das mich beschäftigt hat, ist die Ausgangskultur. Das Nachtlebenkonzept, das wir vom Gemeinderat gefordert haben, hat viel gebracht. Wenn man das Berner Kultur- und Gastroangebot von heute mit dem der Nuller-Jahre vergleicht, sind das Welten. Trotzdem sind wir noch nicht dort, wo wir sein sollten. Es gibt immer wieder Rückschläge wie zum Beispiel die Einsprachen gegen den Jungendklub «Tankere», die zu Verzögerungen und einer Verschiebung des Standortes geführt haben.

Welche stadtbernischen Interessen gedenken Sie, in den Nationalrat zu tragen?

Die Lärmproblematik, die stark mit dem Nachtleben zusammenhängt, möchte ich sehr gerne auf die nationale Ebene bringen. Diesbezüglich ging sogar schon etwas. Kathrin Bertschy (GLP) reichte einen Vorstoss ein, der verlangte, dass zwischen verschiedenen Lärmarten differenziert wird – z.B. Kulturlärm und Verkehrslärm. Leider hatte der Bundesrat dafür kein Gehör. Diesen Kampf möchte ich gerne auf nationaler Ebene weiterführen.

 Andererseits sind es aber auch die Steuerthemen, die mich beschäftigen und die ich auf der städtischen Ebene sehr vermisse. Abgesehen von der Liegenschaftssteuer und der Hundeabgabe ist auf Gemeindeebene keine relevante Steuerpolitik möglich.

Wo sehen Sie steuerrechtlichen Handlungsbedarf auf Bundesebene?

Man muss das Steuersystem auf nationaler Ebene deutlich vereinfachen. Derzeit haben wir unglaublich viele Steuerreduktionen, die dazu führen, dass dem Staat Milliarden von Franken entgehen, weil man irgendwelchen Leuten Steuergeschenke macht. Stattdessen sollten aber die Steuerbasis verbreitert und Ausnahmen abgebaut werden. Ich setze mich diesbezüglich auch für einen einheitlichen Steuersatz bei der Mehrwertsteuer ein – obwohl das ein politisch schwieriges Anliegen ist.

Sie beschäftigen sich auch mit Digitalpolitik und schreiben unter anderem von der Netzneutralität. Was verstehen Sie darunter? 

Ich verstehe unter Netzneutralität, dass die Geschwindigkeit der Übertragung für alle Inhalte gleich ist. Ausnahmen davon bedürfen einer klaren gesetzlichen Grundlage.

Der Datenverkehr im Internet wird zu grossen Teilen von einigen Oligopolisten (Facebook, Google, Apple, Amazon), die allesamt ausserhalb der Reichweite der Schweizerischen Politik liegen, kontrolliert.

Ja, das ist sicher eine Schwierigkeit. Ich finde aber nicht, dass man deshalb einem kruden Antireflex verfallen und diese Unternehmen verteufeln sollte. Hier bin ich durchaus liberal und finde, dass der Markt relativ viel selber regelt. Schlussendlich wollen diese Unternehmen am Markt ihre Stellung behalten und können sich deshalb nicht leisten, ganze Kundschaftsgruppen zu verärgern oder sich über staatliche Regelungen systematisch hinwegzusetzen.

Ein Thema an dem kein*e Politiker*in derzeit vorbeikommt ist die Klimafrage. Finden Sie das übertrieben oder geniesst das Thema zurecht grosse Aufmerksamkeit?

Dieser Bereich kann gar nicht genug Aufmerksamkeit bekommen. Das Problem ist, dass realpolitische Prozesse in den westlichen Demokratien derart gegen eine langfristige Planung sprechen und wir es deshalb kaum schaffen, die Erderwärmung zu begrenzen. Die Erderwärmung ist ein langfristiges Problem, die Politik hat aber nur eine kurzfristige Perspektive. Das hängt in erster Linie mit Legislatur- und Amtsperioden zusammen, die immer nur ein paar Jahre dauern. Es ist deshalb umso wichtiger, dass die Klimafrage auch ausserparlamentarisch ein grosses Thema bleibt.

Ich bin aber nicht der Meinung, dass wir einen Systemwechsel brauchen, um den Klimawandel zu stoppen. Die Systeme, wie sie teilweise von den Klimaaktivisten und -aktivistinnen vorgeschlagen werden, haben im 20. Jahrhundert sehr schlecht funktioniert. Wir müssen an der liberalen Demokratie festhalten, auch wenn der Klimawandel in einem autoritären System, das schneller entscheiden kann, vielleicht besser bekämpft werden könnte.

Sie sprechen von einem Wandel des politischen Systems. Den Klimaaktivist*innen geht es aber um ein ökonomisches Umdenken.

Wir von der GLP finden, dass man die Marktwirtschaft mit ihren eigenen Mitteln in den Griff bekommen kann, zum Beispiel mit einer Steuer auf fossilen Brennstoffen. Das Problem ist doch, dass es heute billiger ist, irgendwelche Güter quer über den Globus zu transportieren, als sie lokal zu produzieren. Hätte die Energie den Preis, den sie eigentlich haben müsste, wäre das kein Thema mehr. Über die wirksame Besteuerung der Energie, vor allem der nicht erneuerbaren, kann man sehr viele umweltpolitischen Probleme lösen.

Im Vorfeld der Wahl war oft von einem möglichen Linksrutsch oder einer Klimawahl die Rede. Welches Zeichen der Stimmbürger*innen wünschen Sie sich am 20. Oktober?

Ich hoffe sehr auf einen Grünrutsch – natürlich vor allem zu Gunsten der Grünliberalen. Bei der GLP kann man grüne Politik auf marktwirtschaftlicher und deshalb umso effizienterer Basis haben.