«Ich könnte heulen und schreien»

von Basrie Sakiri-Murati 24. März 2022

Ukrainer*innen in der Schweiz müssen von fern zusehen, wie ihre Heimat zerstört wird. Ein ohnmächtiges Leiden. Unsere Kolumnistin fühlt mit ihnen.

Als der Krieg in meiner Heimat Kosovo ausbrach, fühlte ich mich vollkommen elend. Es war Frühling, der 6. März 1998. Ich lebte damals bereits seit neun Jahren in der Schweiz. Doch plötzlich fühlte ich mich meiner Heimat näher verbunden als je zuvor und gleichzeitig vollständig verloren. Meine langjährige Hoffnung, dass die politische Lage durch Dialoge eine positive Wendung nehmen könnte, war nun verschwunden. Stattdessen überfluteten meine Heimat Verfolgung, Panzer, Feuer und Bomben. Dies aus der Ferne mitansehen zu müssen, bereitete mir unheimlich Herzschmerzen und grosse Sorgen.

Die serbische Regierung, angeführt vom Diktator Slobodan Milosevic, verwüstete mein Land radikal.
Meine Eltern und Geschwister waren noch unerreichbarer als bis dahin schon. Sie seien in die Wälder geflüchtet, sagte mein Bruder. Wir informierten uns hauptsächlich über Verwandte und Landsleute in der Diaspora. Genaue Informationen hatten wir nicht. Auch einige meiner Geschwister und Verwandten waren im Kosovo von der Aussenwelt komplett abgeschnitten und mussten im Wald ausharren.

Drei Monaten lang musste ich bangen und zittern, weil ich keine Lebenszeichen von Ihnen hatte. Ein Jahr und vier Monaten dauerte dieser grausame Krieg und er verschlang viele unschuldige Leute, darunter auch meine Eltern.

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Die Medien waren noch nicht so präsent wie heute. Sie berichteten nur kurz und oberflächlich. Internet gab es nur in grösseren Städten und kaum für Privatpersonen. Soziale Medien gab es noch nicht. Ich hörte Radio, schaute TV, hoffte verzweifelt auf ein Ende des grausamen Krieges. Und musste lange, sehr lange aus der Ferne Szenen des Grauens und des Leidens mitansehen. Je mehr ich hörte und sah, desto schlechter ging es mir. Ich fühlte mich machtlos, weil ich gar nichts gegen dieses allgegenwärtige Leid unternehmen konnte.

In meinem Buch («Bleibende Spuren») schrieb ich: «Nichts tun zu können, sich hilflos zu fühlen, während die eigene Familie dem Krieg ausgesetzt ist, versetzte mich in eine Art Ohnmachtszustand und verursachte mir Gewissensbisse. Ich fühlte eine gewisse Mitschuld, weil ich meine Familie im Stich gelassen hatte. Ich schämte mich, dass ich in einer friedlichen Gesellschaft lebte, während sie ums Überleben kämpfen mussten. Wenn ich die Nachrichten mitverfolgt und die Bilder des grausamen Kriegs gesehen hatte, konnte ich nachts oft nicht mehr schlafen. Voller Sorge stand ich dann auf, schlich mich ins Kinderzimmer und beobachtete die schlafenden Kinder. Sie schliefen tief und sorgenfrei, und das war gut so! Ich hingegen fühlte mich mitten ins Kriegsgebiet versetzt, sah vor mir die leidtragenden, sich selbst überlassenen Mütter mit ihren Kindern.»

Nur wer Krieg oder Flucht erlebt hat, kann wohl nachvollziehen, was die Ukrainer*innen heute durchmachen.

Heute, knapp 24 Jahre später, ist Krieg in der Ukraine. Es sind ähnliche Bilder der Zerstörung, die zu uns gelangen. Getötete und geflüchtete Menschen, und das ganze wieder mitten in Europa. Das mitansehen zu müssen, tut sehr weh. Ich könnte heulen und schreien. Mir kommt es vor, als wäre der Kosovokrieg erst gestern zu Ende gegangen. Die Spuren eines Krieges sind lange ersichtlich und die Narben der verwundeten Menschen auch. Ich frage mich: Wann lernt die Menschheit aus? Warum werden Diktatoren wie Putin und Milosevic so lange geduldet? Warum muss es so viel Opfer geben, bis etwas unternommen wird?

In der Schweiz sind die Einsatzbereitschaft und Anteilnahme riesengross. Die Menschen solidarisieren sich mit den Flüchtlingen. Sie helfen, wo sie können. Sie übernehmen Flüchtlinge bei sich und spenden Geld, Kleider, Schuhe oder Spielzeuge für Kinder. Die grosszügige Geste der Schweizer erlebte ich bereits Ende der ’90-er Jahre mit den Flüchtlingen aus meiner Heimat. In solchen Situationen, im eigenen Leid nicht allein zu sein, gibt einem Kraft und Lebensmut, und man ist lebenslang dankbar. Nur wer Krieg oder Flucht erlebt hat, kann wohl nachvollziehen, was die Ukrainer*innen heute durchmachen.

Das Netzwerk «Imagine. Ukraine in Bern» organisiert wöchentliche Treffen um ukrainischen Flüchtlingen zu helfen. (Foto: Rita Jost)

Ein albanisches Sprichwort sagt «Njeriu është më i fort se guri!» («Der Mensch ist stärker als der Stein»). Früher kam mir das irrwitzig vor, doch heute denke ich anders darüber. Menschen, die einen Krieg durchmachen oder flüchten müssen, sind stärker als Stein.

Die schweizerische, wie auch die internationale Solidarität ist für die Kriegsflüchtlinge sehr wichtig. Es braucht aber auch das Engagement der internationalen Gesetze und die Menschenrechtsabkommen, um die Freiheit der Völker zu sichern. Man muss den Diktatoren zeigen, dass ihr Platz woanders ist – sie dürfen keine Macht haben. Über kein Land.