«Ich habe das Gefühl, das Schreiben liegt uns Menschen»

von Janine Schneider 1. Mai 2025

Literatur Bern liest ein Buch – und zwar Flurin Jeckers Roman «Santa Tereza». Diverse Orte laden eine Woche lang zur kollektiven Lektüre mit Rahmenprogramm. Im Interview spricht der Berner Autor über das Herunterfahren auf dem Friedhof, Schreibblockaden und wie literarisches Schreiben geht.

Journal B: Wann waren Sie zum letzten Mal auf einem Friedhof? 

Flurin Jecker: Gestern. (lacht) Ich bin viel auf dem Bremgartenfriedhof, mein Atelier befindet sich dort in der Nähe. Und er ist einfach sehr schön.

Luchs, der Protagonist Ihres neuen Romans «Santa Tereza» arbeitet als Friedhofswächter und dreht nachts Runden auf dem Friedhof. Er scheint sich viel mit seiner Vergangenheit zu beschäftigen, über seine Zukunft macht er sich wenig Gedanken, seinen Traum vom Schreiben hat er aufgegeben. Wie schaffen wir es, unsere Träume im alltäglichen Hamsterrad nicht zu verlieren? 

Den ersten wichtigen Schritt übt Luchs in Perfektion aus: Herunterfahren. Er lebt im Gegenteil eines Hamsterrads. Er hat ja nichts zu tun und kann sich den ganzen Tag lang mit den Fragen beschäftigen, die ihn umtreiben. Er lenkt sich nie ab – das hilft sicher. Dann erwachen die Träume von allein.

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Haben Sie im Leben schon mal eine Person angetroffen, die das auf diese Weise schafft? 

In dieser Extremform nicht. Es ist völlig unrealistisch, dass jemand so lebt, ausser die Person ist ein Mönch. Und selbst ein Mönch lebt in einem Kloster und nicht allein. Aber ich habe diese Seite sehr stark in mir, ich kenne das sehr gut. Und ich glaube, es gibt viele Menschen, die diese Seite in sich haben.

Ich schreibe extrem langsam – aber nicht, weil ich so viel plane, sondern weil sich diese Dinge sehr langsam entfalten müssen.

Später in der Geschichte verlässt Luchs den Friedhof zeitweise, fährt zuerst ins Simmental, dann nach Santa Tereza, einem spanischen Dorf am Meer. Auch in Ihren anderen Romanen brechen die Protagonisten irgendwann zu einer Reise auf. Weshalb? 

Das war bisher nie geplant, aber tatsächlich passiert es jedes Mal. Meine Protagonisten durchlaufen eine Entwicklung– und diese hat viel damit zu tun, Altes zu verlassen und nicht mal unbedingt etwas Neues zu finden, sondern häufig auch in etwas Altes zurückzukehren. Mit einem neuen Blickwinkel.

(Foto: David Fürst)

Wie gehen Sie beim Schreiben Ihrer Bücher vor? 

Ich schreibe extrem langsam – aber nicht, weil ich so viel plane, sondern weil sich diese Dinge sehr langsam entfalten müssen. An «Santa Tereza» habe ich sehr lange, etwa zweieinhalb Jahre, geschrieben.

Auch Ihr Protagonist Luchs hat früher geschrieben, litt aber immer wieder unter starken Schreibblockaden. Kennen Sie das auch? 

Sicher! (lacht) Ich kenne das sehr gut. Deshalb brauche ich wohl so lange für meine Bücher. Aber Blockaden gibt es auch sonst im Leben. Dann braucht es eine Entwicklung, im Schreiben wie im Leben. Manchmal habe ich das Gefühl, es ist sogar mein Glück, dass ich sehr schnell nicht weiterkomme, wenn etwas nicht genau richtig ist. Das zwingt mich, alles immer wieder neu zu überdenken.

Wie kann man solche Blockaden überwinden? 

Wenn es einen Trick gibt, dann diesen: Die Bereitschaft, wirklich herauszufinden, warum es nicht weitergeht – und nicht einfach einen Weg zu suchen, wie man so schnell wie möglich weiterkommt.

Für Ihren letzten Roman «Ultraviolett» haben Sie Ihr Leben komplett verändert, und auf das nötigste reduziert. Wie sind Sie bei «Santa Tereza» vorgegangen? 

Das war bei «Ultraviolett» nicht vorgängig geplant, sondern ist im Verlaufe des Schreibens passiert. Auch beim Schreiben dieses Buches hat sich mein Leben stark verändert – zum Beispiel bin ich Vater geworden. Da ging es stark darum, die Freiheit im Kopf auf eine fiktive Art zu erschaffen. Ich bin während des ganzen Schreibprozesses nie weggefahren, wie ich es zuvor oft gemacht habe. Das war auch eine Befreiung: Ich muss nicht auf die Malediven, um mich frei zu fühlen. Sondern ich kann hier mit einem Kleinkind in sehr engen Verhältnissen leben und mich trotzdem jeden Tag in eine enorme Freiheit hineindenken.

Foto: David Fürst

Ihr Schreibprozess hat sich also bei jedem Buch etwas verändert. Wie hat sich Ihr Schreiben insgesamt seit dem ersten Buch verändert? 

Ich glaube nicht, dass es sich dabei um eine lineare Entwicklung handelt, sondern dass jedes Buch eine eigene Sprache oder eine eigene Methode des Schreibens braucht, die es herauszufinden gilt. Manchmal habe ich das Gefühl: Wenn ich wüsste, wie man Bücher schreibt, dann müsste ich keine mehr schreiben.

Sie haben in einem Interview mit dem SRF mal gesagt, Sie würden nach Sätzen suchen, die möglichst nah an der Wahrheit sind.  

Das weiss ich nicht mehr.

Wieviel Wahrheit kann es in der Literatur, in der Fiktion überhaupt geben? 

Ich glaube, sehr viel. Sogar mehr als in der Nonfiktion. Wenn ich in einem journalistischen Text schreibe «gestern hat das Haus gebrannt», muss ich mich sogleich korrigieren, denn vielleicht hat nur das Dach gebrannt oder es wurde nur angekokelt. Das hat seine eigenen Qualitäten und interessanten Aspekte. Aber wenn es darum geht, die Wahrheit herauszufinden, kann man das nur mit einer fiktiven Figur wirklich. Mit Fiktion kann man der Wahrheit näherkommen, gerade weil man weiss, dass sie nicht faktisch ist.

Wenn ich wüsste, wie man Bücher schreibt, dann müsste ich keine mehr schreiben.

Sie geben immer wieder Workshops an Schulen zum Schreiben. Was versuchen Sie zu vermitteln? 

Diese Workshops sind sehr kurz. Es geht vor allem darum, die Angst loszulassen, gut schreiben zu müssen. Die Schülerinnen und Schüler sollen üben – wenn auch nur für fünf Minuten – einen Scheiss zu schreiben. Das gute Schreiben wird einem ja schon im Deutschunterricht beigebracht. Aber für das literarische, kreative Schreiben muss man nichts lernen – sondern eher wieder etwas verlernen.

Oft hört man heute den Vorwurf, die junge Generation könne nicht mehr schreiben. Was treffen Sie an den Schulen an? 

Grundsätzlich können die meisten Leute in unserer Gesellschaft nicht mehr gut schreiben. Auch 50-Jährige nicht – weil sie nicht mehr lesen. Aber ich habe das Gefühl, das Schreiben liegt uns Menschen eigentlich. Das merke ich an den Schulen: Gerade Jugendliche, die behaupten, sie würden es hassen zu schreiben, können sehr schnell sehr gute Texte schreiben – wenn man den Blick etwas verändert. Mir ging es früher genauso. Ich fand das Schreiben in der Schule immer sehr anstrengend. Aber ich glaube, das ist heute genau meine Stärke als Schriftsteller: Dass ich früher nicht gerne geschrieben habe.

(Foto: David Fürst)