«Ich blieb der Tschugger»

von Anne-Careen Stoltze 3. November 2012

Er kennt die Reitschule von Anfang an, sein Cousin hat ihn sogar zu einer Demo mitgenommen, aber das war nichts für ihn. Alfred Rickli ist Polizist geworden und ist als Chef stationierte Polizei Bern Nord für die ganze Innenstadt verantwortlich.

«Meine erste Begegnung mit der alternativen Bewegung hatte ich lange bevor es die Reitschule gab. Das erste Haus, was als AJZ besetzt worden ist, war damals an der Villettestrasse 7. In dem Haus habe ich als Kind viel gespielt, denn dort lebte meine Grossmutter. Ich bin im Mattenhof gross geworden. Meinen ersten Kontakt mit den Alternativen hatte 1969 bis 1970. Damals war ich noch ein Stift von sechzehn, siebzehn Jahren.»

«Mein Cousin zeigte eine gewisse Zeit Sympathien für die 68er Bewegung und nahm mich zur Demonstration beim früheren Hotel Alpha in der Laupenstrasse mit. Über ihn, aber auch im Zusammenhang mit den Umbau- und Sanierungsarbeiten in den Gaskesseln durch die Hasler AG – dort war ich Lehrling – hatte ich persönlichen Kontakt zur ersten Betriebsleitung im Gaskessel. Für mich war das alles nichts. Ich hatte es gut mit meinen Eltern, es gab keinen Grund gegen sie zu rebellieren. Ich habe immer Sport getrieben, dort war ich eingebunden und habe mich ausgetobt.

Die Jugendbewegung wollte mehr Freiheit und eine andere Lebensform – das habe ich nicht gebraucht. Es lag nicht in meinem Naturell dabei mitzumachen. Ich habe mich an der Gewalt gestört. Musste randaliert werden bei den Globus-Krawallen in Zürich? Warum müssen die Jungen auf diese Art protestieren? Das war wahrscheinlich ausschlaggebend, dass ich auf der anderen Seite stehe und Polizist bin.»

Abwehrhaltung gegen Hass

«Ich habe in den 80er und 90er Jahren viel Hass gegen die staatlichen Institutionen zu spüren bekommen. Da bin ich hinein gewachsen, es wurde zum Alltagsgeschäft. Aber es hat gleichzeitig bewirkt, dass bei mir eine Abwehrhaltung entstand. Das war ein gegenseitiges Taxieren: Was macht die Polizei, was machen die Protestierer. Manchmal hat es nur einen Nadelstich gebraucht und die Situation hat sich aufgeschaukelt. Einen Stein habe ich sicher mal ans Schienbein bekommen und bin mit Feuerwerk beschossen worden, aber ernsthaft verletzt wurde ich nie. Natürlich ist der Adrenalinspiegel hoch gegangen, und ich hatte auch in den ersten Jahren bei unfriedlichen Einsätzen Angst. Aber ich kann mich an keine Situation erinnern, wo ich so wütend geworden wäre, dass ich nicht mehr sachlich denken konnte. Ich habe einen kühlen Kopf bewahrt und mich darauf konzentriert: ‘Wie kommen wir heil aus dem Scharmützel wieder raus?’.»

«In den 80er Jahren gab es montags nach den Vollversammlungen fast immer ein Scharmützel. Donnerstags war der Abendverkauf mit einer Demonstration durch die Stadt und samstags auch noch mal. Fast immer gab es Sachbeschädigungen und Zusammenstösse mit den Demonstrierenden. Darauf konnten wir uns einstellen.»

Umdenken in den 90er Jahren

«Mitte der 90er-Jahre hat sich die Haltung der Polizei verändert, da hat ein Umdenken eingesetzt. Wir machten einen Strategiewechsel hin zur Deeskalation. Wir haben nicht mehr nur Demonstrationen aufgelöst, sondern haben immer mehr versucht mit den Leuten zu reden. Beide Seiten hatten ein Interesse an einer Art von Zusammenarbeit. Ich konnte zu manchen recht gute Kontakte entwickeln. Ich war oft als Zivilpolizist unterwegs, um Kontakt zu den Demonstrierenden herzustellen. Mit Daniele Jenni und Giovanni Schumacher habe ich dann besprochen, wie die Route verlaufen soll. Wir kannten uns und konnten miteinander reden. Persönlich wurde es nie, es gab immer eine Distanz. Ich blieb der ‘Tschugger’.»

«Seit 2004 bin ich bei den IKUR-Gesprächen dabei. Wenn wir zusammen am Tisch sitzen, haben wir oft einen guten Austausch. Ich kann reagieren, wenn mir vorgeworfen wird, die Polizei wolle provozieren. Auf der anderen Seite können die Vertreter der Reitschule schildern, wie sie einen Polizeieinsatz erlebt haben. Wir sind auf einander zugegangen. Ich habe auch mal Verständnis erhalten. Es gibt nur ein Problem: Wenn wir bei einer IKUR-Sitzung etwas vereinbaren, nehmen die Reitschüler es oft später wieder zurück, weil die Vollversammlung das basisdemokratisch diskutiert und ablehnt. Die IKUR tagt aber erst wieder zwei Monate später. Deshalb zieht es sich alles in die Länge.»

Chaos am Anfang

«Ich war früher auch privat in der Reitschule, weil ich wissen wollte, wie es da aussieht. Damals war es das pure Chaos: da lag ein Drögeler am Boden, dort wurde gesoffen. Es war schmutzig und unappetitlich. Jeder, der nicht wusste, wo er die Nacht verbringen soll, ist in die Reitschule gegangen.

Die Reitschule war ein Schmelztiegel, ein Auffangbecken für junge Leute, Leute mit Drogenproblemen bis hin zu politischen Aktivisten. Es hatte den Charakter einer Gassenküche. Sie haben mit wenig Geld gekocht oder Veranstaltungen organisiert. Alles war gratis.»

«Das hat sich heute sehr verändert. Die Reitschule hat sich professionalisiert. Es gibt das Restaurant, die Druckerei, das Kino, das Tojo-Theater, den Dachstock und das alles. Ich habe das Gefühl, inzwischen ist in der Reitschule der Kommerz angekommen. Früher haben sie noch gesagt, wir wollen keinen Gewinn machen. Ich bezweifle, ob sich heute nicht guter Gewinn machen lässt, von dem Löhne gezahlt werden. Die Strukturen sind klar und das Kulturangebot ist aus meiner Sicht ein wichtiger Bestandteil für Bern.»

Basisdemokratie als Hindernis?

«Die einzelnen Leute vom Tojo oder vom Dachstock, die wollen wirklich etwas Gutes. Sie wollen Kultur bieten und einen guten Betrieb führen. Ganz persönlich kann ich nicht verstehen, warum sie sich immer noch von den basisdemokratischen Strukturen bestimmen lassen. Sie können dadurch gar nicht frei entscheiden. Auf der einen Seite haben sie ein ökonomisches Interesse, dass die Kulturangebote gut laufen. Vor etwa fünf Jahren hatte sich die Situation auf der Schützenmatt und auf dem Vorplatz so zugespitzt, dass wegen der durch die Reitschule geduldeten ‘offenen’ Drogenszene weniger Gäste ins Tojo oder in den Dachstock kamen. Da waren die Kulturbetreibenden benachteiligt. Erst durch diese negative Entwicklung waren sie dafür, dass die Polizei und Pinto gezielter gegen die Drogenszene vorgehen konnten. Das ist jedoch in der Vollversammlung heikel und umstritten. Sie können nicht sagen, wir sind gegen Drogen, denn das passt nicht zur Basisdemokratie. Auf der anderen Seite steht die Vollversammlung, wo einige Leute auf Grund ihrer Überzeugung meinen, alle, auch polizeilich gesuchte Personen hätten ein Recht darauf, sich in der Reitschule aufzuhalten. Da gibt es intern viele Spannungen.»

Neujahrseinsatz im Sous le pont

«Wie tief die Unterschiede gehen, habe ich auch vor etwa vier Jahren erlebt. Da wurden wir am Neujahrsmorgen ins Sous le pont gerufen, weil Unbekannte die Reitschule angegriffen hatten. Die Scheiben im Restaurant waren eingeschlagen und die Kasse war beschädigt. Die Anwesenden haben sich gefürchtet und sich nicht mehr hinausgewagt. Sie hatten Angst zusammen geschlagen zu werden, weil sie die Polizei eingelassen und um Hilfe gerufen haben. Ich wollte Namen wissen. Aber sie hatten zuviel Angst und haben niemanden verraten. Daran kann man sehen, wie schwierig das heute für Kulturbetreiber ist. Obwohl sie selbst durch eine gewisse Gruppe der Reitschule geschädigt wurden, verweigerten sie eine Zusammenarbeit mit der Polizei. Das macht es für uns natürlich schwer.»

«Ich glaube, die Reitschule könnte sich ein Beispiel an Organisation der grossen Halle nehmen. Sie ist autonom und entsenden ihre Vertreter, die recht viel entscheiden können. Es sind nicht noch Leute in den Entscheid involviert, die mit ihrer Anti-Polizei-Haltung den Kulturbetrieb behindern oder gar schädigen. Die Organisation ist in der Roten Fabrik in Zürich besser gelungen. Wenn das in der Reitschule einmal so gemacht würde, bin ich sicher, dass der Kulturbetrieb noch besser laufen würde. Allerdings stellt sich die Frage: Wo fänden dann die verschiedenen politischen Strömungen einen Ort, die heute in der Vollversammlung aufgefangen sind?»

Beruf beeinflusste den Nachwuchs

«Meinem Sohn und meiner Tochter habe ich nie verboten, in die Reitschule zu gehen. Ich habe ihnen lediglich gesagt, worauf sie acht geben sollten. Sie waren in der Reitschule, im Gaskessel, im Wasserwerk und überall, wo die Jungen eben im Nachtleben gehen. Aber sie haben sich nicht speziell für die Reitschule begeistert. Sie sind wohl durch meine Arbeit geprägt worden.»