«Ich bin wie ich bin, aber ich bin schön»

von Christoph Reichenau 13. Februar 2018

Eine Ausstellung im Zentrum Paul Klee erkundet das Leben von Menschen mit Down-Syndrom und präsentiert Werke von Künstlerinnen und Künstlern mit und ohne das Syndrom. Klare Sprache in den Texten erleichtert das Verständnis. Hingehen!

Hängen die Kunstwerke in der Gurlitt-Ausstellung im Kunstmuseum Bern (KMB) rings um die Informationsstationen, so stehen sie im Zentrum Paul Klee (ZPK) mitten in der Ausstellung «Touchdown». Ist das KMB vollgepackt mit Exponaten und erläuternden Texten, wirkt das ZPK luftig, trotz langer Erklär-Tafeln. Die Unterschiede liegen in den verschiedenartigen Konzeptionen der Ausstellungen. Bei Gurlitt sind die Fachleute am Werk. «Touchdown» ist eine gemeinsame Ausstellung über, von und mit Menschen mit Down-Syndrom.

Bezugspunkt Bonn

In beiden Fällen besteht eine Beziehung zur deutschen Bundeskunsthalle in Bonn. Die Gurlitt-Schau wurde von KMB und Bonn gemeinsam in zwei Teilen entwickelt. Während der Planungszeit war in der Bundeskunsthalle «Touchdown» zu sehen. Nina Zimmer, Direktorin von KMB und ZPK, «verliebte sich», wie sie sagt, ein eines der dort hängenden Bilder und fing Feuer für die Übernahme der Ausstellung nach Bern.

Vor Bern war «Touchdown» noch zu Gast in Bremen. Und was jetzt im ZPK zu sehen ist, wurde weiterentwickelt: Einerseits an die schweizerischen Verhältnisse angepasst, andererseits durch weitere Kunstwerke bereichert. Denn die Ausstellung ist ein Zwitter im besten Sinn, eine Kunst- und eine Fachausstellung.

Expedition auf die Erde

Die Ausstellung folgt einem roten Faden: Sieben Menschen mit Down-Syndrom und eine Hündin fliegen mit einem Raumschiff vom Phantasie-Planeten kUMUSI zur Erde. Sie wollen wissen, wie das Leben auf der Erde ist. Und besonders: Wie Menschen mit Down-Syndrom hier leben. Ihre Fahrt ist die «Second Mission», denn schon vor 5’000 Jahren haben Leute von kUMUSI unsere Welt besucht und sind da geblieben. Deshalb will die «Second Mission» auch in Erfahrung bringen, wie es den Nachfahren der Expedition geht, die um 3’000 vor Christus die Erde besucht haben, zur Zeit des Alten Reichs in Aegypten und der beginnenden Sesshaftigkeit.

Das Raumschiff landet mitten im ZPK. Das Team rammt seine Fahne in den Boden und macht sich auf den Weg. Wie es einer Expedition ziemt, erkundet das kUMUSI-Team systematisch in sechs Etappen die Lebensverhältnisse von Menschen mit Down-Syndrom in der Schweiz und in Deutschland. Es geht um konkrete Fragen: Familie, Schule, Arbeit, Bankkonto, Führerschein. Dürfen sie heiraten und Kinder haben? Dürfen sie abstimmen und wählen? Haben sie eine Privatsphäre, ein Recht darauf, das Leben selber zu gestalten?

Down-Syndrom

Menschen mit Down-Syndrom gab es vermutlich schon immer. Nachgewiesen ist das Syndrom am Skelett einer Frau, die im Alter von 18-20 vor 2’550 Jahren in Taubernbischofsheim gestorben ist.

Was unterscheidet Menschen mit Down-Syndrom von solchen ohne? Vor 150 Jahren fotografierte und beschrieb der englische Arzt John Langdon-Down (daher die Bezeichnung) erstmals Menschen mit dieser Anlage und machte sie so in ihrer Besonderheit, ihren Begabungen, ihrem Aussehen sichtbar. Down förderte sie und ermöglichte ihnen ein selbständigeres Leben. Dies im Unterschied zur herrschenden fachlichen Auffassung seiner Zeit. Down, seiner Zeit voraus, war dennoch so stark in ihr verhaftet, dass er die Bezeichnung «Mongolismus» mitprägte. Mongolismus, weil die rundliche Gesichtsform und die mandelförmigen Augen an ethnische Gruppen der Mongolei gemahnen. Später empfand Langdon-Down diese Bezeichnung als irreführend und abwertend und legte sie ab.

Es vergingen noch weitere fast hundert Jahre, bis Wissenschafterinnen und Wissenschafter 1959 die Ursache des Down-Syndroms entdecken: ein zusätzliches Chromosom. Anstatt 46 Chromosomen pro Zelle haben Menschen mit Down-Syndrom 47 Chromosomen. Anstatt doppelt, ist bei ihnen das 21. Chromosom (oder Teile davon) dreifach vorhanden; deshalb nennt man dies Trisomie 21. Es gibt vier Formen von Trisomie 21.

Trisomie 21

Ist das eine Krankheit oder einfach eine genetische Besonderheit? Fachlich zählt die Trisomie 21 nicht zu den Erbkrankheiten im engeren Sinn. Sie wird kaum vererbt und ist von Betroffenen nur unter engen Voraussetzungen vererbbar. Das Risiko, ein Kind mit Down-Syndrom zu bekommen, wächst exponenziell mit dem Alter der Mutter. Buben sind stärker betroffen als Mädchen. Das Syndrom lässt sich vorgeburtlich mit Ultraschall und Chromosomenanalyse leicht erkennen. Soweit Zahlen vorliegen, brechen 9 von 10 Müttern dann die Schwangerschaft ab.

Es kommen deshalb nur wenige Kinder mit Down-Syndrom zur Welt. Je früher pränatale Tests erkennen lassen, dass Föten von Trisomie 21 betroffen sind, desto stärker wächst der Druck auf die Eltern, die Abklärung vornehmen zu lassen. Und desto grösser wird bei positivem Ergebnis der Druck, die Abtreibung als Option zu erwägen. Sich vorbehaltlos zu seinem Kind zu bekennen, wird entsprechend schwieriger in einer Gesellschaft, die sich über Eugenik erhaben glaubt, aber dem Leistungsideal frönt und einem engen Verständnis von Normalität huldigt.

Offener Schluss

Dies war zu Beginn des 20. Jahrhunderts anders. Damals herrschte offen die Ideologie der Eugenik – einerseits um Betroffenen und ihre Familien ein extrem forderndes Leben «zu ersparen», andererseits um die Gesellschaft vor «unnützen» Menschen zu verschonen. Die Ausmerzaktion T 4 des nationalsozialistischen Regimes in Deutschland – die «Vernichtung lebensunwerten Lebens» ab 1938 – brachte Tausenden den Tod. In der Schweiz teilten Viele diese Ideologie, gingen aber nie so weit, Menschen umzubringen.
Welche Erkenntnisse trägt die Expedition zusammen? Wie bewertet sie diese? Erscheint dem Team das Leben von Menschen mit Down-Syndrom in der Schweiz heute lebenswert? Wollen die Leute von kUMUSI zurück fliegen auf ihren Planeten oder lieber hier bleiben? Diese Fragen diskutieren die Besucherinnen und Besucher an der letzten Station aufgrund der in der Ausstellung gemachten Erfahrungen. Jede und jeder sucht die eigene Antwort. Und trägt die Gedanken hinaus in den Wintertag.

Starke Kunstwerke …

Ist «Touchdown» vorwiegend eine Fachausstellung, die durch Zufall im ZPK «gelandet» ist? Nein. Schon vor ein paar Jahren widmete das Kindermuseum Creaviva, das integrative Kunstvermittlung pflegt, den Menschen mit Down-Syndrom eine Ausstellung. Das ZPK ist zudem nicht einfach ein Kunstmuseum, sondern ein Kulturzentrum, das gerade auch den Beziehungen zwischen Wissenschaft und Kunst nachgeht. Schliesslich: Paul Klee war sehr interessiert an der Kunst nicht-professioneller Kunstschaffender.
Darum geht es auch in dieser Ausstellung: Um Kunst. Um Kunstwerke von Menschen mit Down-Syndrom und um Kunstwerke von Menschen ohne Trisomie 21. Die Werke stehen inmitten des Ausstellungsraums. Für mich bilden sie auch inhaltlich das Zentrum der Ausstellung. Sie sind Ausdruck der gestaltenden, schöpferischen Kraft dieser besonderen Personen.

… in grosser Vielfalt

Unübersehbar steht Markus Keulers hölzerne Figurengruppe von Menschen mit Down-Syndrom im Raum, vorsichtig die einen, selbstbewusst die anderen, gemeinsam sich Unterstützung bietend. Ein starkes Statement: Uns gibt es.
Zart und verspielt demgegenüber Birgit Ziegerts in roten und orangen Tönen gehaltene Wollstickerei auf Kunststoffgewebe. Die gleiche Künstlerin hat in jahrelanger Arbeit ihr Hochzeitskleid aus weissem Stoff angefertigt, kunstvoll drapiert, ohne Ärmel, sie wird es nie anziehen.

Neben dem Kleid hängt über einem Bügel ein Hochzeitsanzug von dreien, die Pascal Tassini immer parat hat für den Fall, dass seine Liebste den Heiratsantrag einmal annimmt.
Auf einem niedrigen Podest hat Pia Heim mit farbigen Holzklötzchen unterschiedlicher Grösse ein Modell ausgelegt: «Ideen für eine Landschaft».

Alain Meers mir kraftvollen Pinselstrichen gemaltes Skelett in der Kartonkiste nimmt Bezug auf die Menschen mit Down-Syndrom aus früher Zeit, und auf Michael Jacksons verschwundener Leiche.

Selber umwickeln

In verschiedenen Räumen stehen und liegen Judith Scotts Assemblagen, mit Wollfäden und weiteren Materialien verfremdend umwickelte Gegenstände, deren Äusseres nicht erkennen lässt, was sich im Innern befindet. Es sind grossartige, raue, geheimnisvolle Objekte, Findlingen gleich. Die Künstlerin soll die Werke einfach von sich geschoben haben, wenn sie fertig waren. Etwas umwickeln ist eine Tätigkeit, die viele Menschen mit Down-Syndrom gern haben, sie ist repetitiv, fordert Genauigkeit und Disziplin, wie etwa auch das Ausmalen von Mandalas. Um dies auch den Besuchenden zugänglich zu machen, ermöglicht ein stark genutztes Atelier, Steine mit Wolle zu umwickeln.

Das Gegenteil drücken Hakashi Shujis Tuschbilder aus. Den Tugenden der japanischen Kalligraphie setzen sie die Freiheit des Pinselstrichs und der bildnerischen Komposition entgegen.

Verschiedene Fotos porträtieren Menschen mit Down-Syndrom, schön gemacht, würdig, darunter eine Frau und ein Mann mit Gesichtsbemalung im Stil der Maoris von Neuseeland. Das Bild der an sich scheuen Frau in Kampfstellung mit goldenen Strichen über Wangen und Mund ziert das Plakat der Ausstellung. Die Fotos zeigen Menschen mit Down-Syndrom, wie sie sich selber sehen, wenn es ihnen gut geht: «Ich bin wie ich bin, aber ich bin schön»

Eine Frage

Vom «government of the people, by the people, for the people» sprach der amerikanische Präsident Abraham Lincoln 1863 in der Gettysburg-Address. Eine «Ausstellung mit und über Menschen mit Down-Syndrom» soll «Touchdown» sein. Für mich stimmt dies nicht ganz. Die regelmässigen Tandem-Führungen finden nicht auf Augenhöhe statt. Die Führenden mit Down-Syndrom haben ihre klar begrenzten, gut vorbereiteten Anteile, aber diese entsprechen weder im Umfang, noch in der freien Gestaltung des Rundgangs den Anteilen der anderen Führenden. Das ist kein Problem. Aber man sollte aus dem Positiven des Tandems in seinen Grenzen kein weitergehendes Versprechen machen und die Menschen mit Down-Syndrom dafür benutzen.

Und: Heimat

Im Zusammenhang mit der Ausstellung befasst sich Creaviva, das Kindermuseum im ZPK, mit Fragen zum Begriff Heimat: Wo gehöre ich hin? Wo bin ich zu Hause? Wo kann ich sein, wer ich bin? Menschen mit und ohne Down-Syndrom haben ihre ganz eigenen Vorstellungen von Heimat. Im Creaviva werden diese Antworten anhand kleiner Objekte sichtbar gemacht. Dazu lädt das Creaviva alle ein, auf einfache Art ihren eigenen Pass zu gestalten. Und dabei – so schreibt Urs Rietmann, Leiter des Kindermuseums – zu «merken: Auch wenn jeder Mensch sein oder ihr ganz eigenes Zuhause hat, so gehören wir für ein paar Jahre Lebenszeit alle zu einer einzigen, grossen Heimat, dieser Welt nämlich, die wir von unseren Kindern geliehen haben und der Sorge zu tragen eine unserer wichtigsten Aufgaben ist.»