«Ich bin Sammler und Übersetzer»

von Katrin Bärtschi 22. Dezember 2021

Der Fährmann Daniel Glauser von der Bodenacker Fähre mag die Menschen. Davon berichtet sein im Herbst beim Berner Lokwort-Verlag erschienenes Buch «Aare». Und das bestätigt er im gemütlichen Fährhäuschen beim Gespräch. «Dass ich Fährmann wurde, ist folgerichtig», sagt Daniel Glauser und beginnt zu erzählen. Davon, dass das Leben in Zyklen verlaufe. Welcher Zyklus ihn wohin führte. Er erzählt lebendig, scheint während allem Reden immer wieder nachzudenken über das, was er sagt.

Bei mir fing das Schreiben klassisch mit dem Tagebuch an. Danach, als Nebenjob während des Studiums, schrieb ich für das Burgdorfer Tagblatt und die Tagwacht. Ich merkte, das liegt mir, ich erhalte gute Feedbacks. Und ich merkte, dass ich beim Schreiben am meisten Selbstausdrucksmöglichkeit finde. Ich verfasste Kurzgeschichten und konnte später in Quartierblättchen Kolumnen veröffentlichen. Ungefähr 1995 erhielt ich aufgrund einer Kurzgeschichte ein Stipendium für schriftstellerischen Nachwuchs. Ich war vom Hafmanns Verlag vorgeschlagen worden. Es war super! Robert Gernhardt und Lars Gustafsson waren Mentoren und ich lernte, dass ich nicht der geborene Romanschreiber bin. Ich erzähle lieber von dem, was ich erlebe. Bin Übersetzer, jetzt im doppelten Sinn: Ich setze über das Wasser. Und gleichzeitig ist mein Buch eine Übersetzung dessen, was ich hier erlebe.

Die Folgerichtigkeit. Ich hatte immer schon Mühe mit der zielgerichteten Art und Weise, wie die Welt funktioniert und wie ich funktionieren müsse. Das Karrieredenken zum Beispiel. Alles, was ich machte, entsprang der Neugier auf den Lebenszyklus, das Kommen und Gehen. Darin gibt es sicher kleinere Ziele, sie sind aber dem grösseren Kreislauf unterstellt. Wobei unsere Gesellschaft im Groben nicht so funktioniert. Warum ich bin, wie ich bin? Hm. Ein Bild: Ich erinnere mich gut, hier in der Nähe führten meine Onkel einen Landwirtschaftsbetrieb. Es gab eine Hostett, ich kam mit dem Velo gefahren und Onkel Fritz war unter dem Baum am Nüssesammeln. Noch heute sehe ich seine Hände, wie sie die Nüsse zusammenlesen. Das hat mich beeindruckt! Dieses Hier-und-jetzt-Sein. Nicht in der Zukunft und nicht in der Vergangenheit. Das sind schöne Kindheitserinnerungen.

Ich lernte dann Hochbauzeichner. Das Zeichnen lag mir, Freihand- wie das technische Zeichen. Musik auch. Ich spielte von Kind an Klavier, improvisierte immer.

«Für mich ist die Arbeit der Fährleute grundsätzlich ein Handwerk und eine Dienstleistung.» (Foto: Raffael Waldner)

Eigentlich bin ich ein musischer Typ, und weniger ein Ökonom. Auch beim späteren Beruf interessierten mich vor allem die Menschen und nicht das Technische. Nach der Lehre verbrachte ich ein Jahr in Kanada. Als Allrounder in einem Fischer- und Jägersportcamp. Im Unmittelbaren arbeiten und sein, im Winter abgelegen und abgeschnitten als Camphüter.

Vor zehn Jahren fragte ich mich, welches eigentlich meine erfüllteste Zeit gewesen sei. Schon Kanada mit dieser Natur! Und ich merkte: Ich möchte wieder draussen arbeiten.

Ich bin ein Entwickler. Dabei ging ich doch den ganz konventionellen Berufsweg. Zurück aus Kanada studierte ich Architektur und führte zusammen mit zwei andern während zehn Jahren ein Architekturbüro. Danach machte ich ein Jahr Pause und widmete mich dem Schreiben und den Kurzgeschichten. Dann kam ich in die Baubar Bern, die später zur Bauteilbörse der Stadt Bern wurde, ein Arbeitslosenprojekt. Auch hier Kreisläufe: Arbeitslose wieder in das Arbeitsleben integrieren, Bauteile wiederverwenden. Und mich interessierte das Sinnstiftende am Bau: Die Wiederverwertung. Ich half in Rumänien ein Kinderheim renovieren. Und merkte, dass zumindest dort bei der Bausanierung das Soziale so wichtig war wie das Technische. Es freut mich, dass heute die Kreislaufwirtschaft mehr Beachtung erhält. Kürzlich hielt ich dazu einen Vortrag an der ETH und merkte, dass das rein Zielgerichtete an Bedeutung verliert und das Kreislaufdenken für die Jungen inzwischen sinnstiftend ist.

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Der Weg zum Fährmann: Vor zehn Jahren war ich in drei Firmen gleichzeitig tätig und ausgelaugt. Da kam dann dieser Wunsch, draussen zu arbeiten. Und ich erinnerte mich an ein Interview mit einem indischen Sterbebegleiter, das ich vor vielen Jahren gelesen hatte. Dieser Mann sagte, noch nie habe jemand auf dem Sterbebett beklagt, nicht mehr Reichtum erlangt zu haben. Am meisten bedauerten die Menschen in ihren letzten Stunden, dass sie sich nicht mehr Zeit nahmen, um mit den Leuten zu sein und die Welt zu erkunden.

Ich bewarb mich bei einem befreundeten Gärtner. «Vergiss es!», war seine Antwort. «In deinem Alter! Da kannst du mit den Jungen nicht mithalten. Du kannst höchstens ein wenig work-life-Balance machen bei mir.» Berufsfischer konnte ich von Gesetzes wegen nicht werden, zur Prüfung werden nur Unter-Fünfzigjährige zugelassen. Ich kannte den Fährmann, der vor mir hier war, den ehemaligen Bademeister von Muri. Er erzählte mir mal, er werde in eineinhalb Jahren pensioniert. Zuerst dachte ich nicht viel, dann aber: «Das isches!» Ich machte ich die Prüfung, bewarb mich und erhielt die Stelle.

Manchmal ist die Arbeit auf der Fähre schon eine Herausforderung. Wie den Zustieg sicher machen, jetzt im Winter zum Beispiel? Salz verwandelt den Schnee auf dem Schiff in Seife, der Pickel macht das Boot kaputt – also Wasser kochen! Bei Niedrigwasser fährt sich’s wie im Deux-Chevaux, bei Hochwasser wie bei der Formel eins. Die Energie des Wassers ist dann eindrücklich. Als 560 Kubik pro Sekunde kamen verstand ich, warum das Betreten des Ufers verboten wurde. Wir konnten natürlich nicht mehr fahren, hatten aber Pikett, um die Fähre zu sichern. – Oft müssen wir das Seil an den Wasserstand anpassen. Oder Entscheidungen treffen: Wann aufhören, wenn Blitz und Donner nahen?

Ich möchte noch einmal auf das Übersetzen zurückkommen. Wenn man den Mythos anschaut vom Fährmann als Übersetzer von einer Welt in die andre, vom Leben in den Tod, so denke ich, dass ich eben nicht ein Poschi- oder Taxichauffeur bin. Ich realisiere, dass auch viele Fahrgäste es so sehen. Die Fähre ist nicht mehr ein Verkehrsmittel zur Überquerung eines gefährlichen Flusses. Heute gibt es Brücken und Autos. Doch immer noch ist die Kontaktaufnahme mit dem Fährmann oder der Fährfrau für die Leute wichtig. Das ist bereichernd, wobei ich es weder romantisieren, noch idealisieren möchte. Das geschieht schon zu oft. Für mich ist die Arbeit der Fährleute grundsätzlich ein Handwerk und eine Dienstleistung. Aber die Fahrt auf der Fähre hat auch zu tun mit Zurücklassen und am andern Ufer entsteht dann etwas Neues. Wieder im Kreislauf gedacht: Ich steige ein und, was war, vergeht.

Wenn ich auf der Fähre arbeite, stehe ich im Lebensfluss, mitten im Leben. Ich muss gar nichts machen, nur ein wenig steuern, wenn ich da auf der Aare bin.

Ich war mal an einer Filmproduktionsfirma beteiligt. Die Firma entstand im Zusammenhang mit einem Dokfilm zum Thema «wiederverwerten». Titel: «Der Wert der Dinge», Untertitel: «Abfall gibt es nicht». Mich Gerber und Balts Nill machten die Musik dazu. Ich führte auch eine Firma, die die Wiederverwendung von Bauteilen organisiert. Wenn zum Beispiel ein grosser Umbau ansteht wird das Baumaterial aus Platzgründen nicht in eine Bauteilbörse gezügelt, sondern wir organisierten Direktverkäufe via Internet. Ich habe die Firma jetzt übergeben, arbeite aber im Mandat weiterhin mit. Es ist toll, nicht von einem Moment auf den andern pensioniert zu werden. Ja, es ist wieder ein Übergang, ein sanfter Übergang.

Zurück zum Schreiben: Nach dem Seminar von 1995 schrieb ich Kurzgeschichten und einen Roman. Den ich aber nach einem Gespräch mit einem Verleger nicht veröffentlichte. Er könne den Roman schon verlegen, sagte er, machte aber eine Schlüsselbemerkung: Er möchte mit Autoren arbeiten, die wissen, was sie wollen. Ich wusste eigentlich nicht, was ich wollte. «Meine ich es ernst, oder ist es einfach Selbstverwirklichung?» Es war spannend. Heute weiss ich: Ich bin ja Pilzler, und auch auf der Fähre kann ich Sammler sein. Das liegt mir. Und ich übersetze das Gesammelte in das, was ich erzählen will. Dabei sind es ja nicht wahllose Geschichten. Sie stehen für die Aussagen, die ich machen will und die in mir drin sind. In der Architektur bauten wir übrigens in den zehn Jahren auch nur zweimal etwas ganz Neues. Sonst machten wir immer Neues aus Altem.

Zum Buch: Zuerst notierte ich für mich die Zusammenhänge. Wasser. Temperatur. Und dann die Begegnungen. Ich erlebte Ermutigung aus dem Freundeskreis. Der Blog entstand und daraus die Buchidee. Dass der Lokwort-Verlag darauf einstieg, hat mich sehr gefreut. Eines gab dem andern die Hand. Ein Jahr dauerte meine Überarbeitung der Text, dann kam das Buch heraus. Im Sommer 20 lernte ich einen Musiker kennen, Andreas Renggli, der extra für einzelne Beiträge aus dem Buch Musik komponierte. Wir konnten ein paar Mal damit auftreten und hoffen auf weitere Aufführungen.

Ein Traum? Das Problem ist: Ich lebe meinen Traum. Ja, stimmt, das ist kein Problem.

 

Aufgezeichnet von Katrin Bärtschi