Um Heimat geht es, nicht ums Heimatland. Das Monopol der National-Konservativen, der Rechten, der unheimlichen Patrioten auf die Bestimmung dessen, was Heimat zu sein habe, soll aufgebrochen werden. Nicht durch ein anderes Monopol, sondern durch Offenheit und Vielfalt. Denn die Schweiz, so schreibt Beat Jans im Vorwort, «ist auch ‚unsere Schweiz‘. Sie gehört nicht nur denjenigen, die Schweizer Fahnen auf Balkone hängen. Alle Menschen, die hier leben, machen die Schweiz aus.» Und, so nimmt man an, sie alle sollen – in repräsentativer Auswahl natürlich – im Buch zu Wort kommen.
Das nun trifft nicht zu. Was in rund fünfzig Texten vorliegt ist eine wesentlich sozialdemokratisch geprägte Blütenlese vorwiegend älterer Menschen, darunter viele Männer in ehedem oder immer noch herausgehobenen Stellungen. Ich habe nichts dagegen, man darf die Erwartung an «diversity» einfach nicht zu hoch schrauben.
Was erfährt man beim Lesen? Viel Gescheites, Bedenkenswertes, gehobene Staatsbürgerkunde, geronnene Erfahrung. Es geht um Mythen (der Bundesbrief, Tell natürlich), um Identität, um Sprache, um Wirtschaft und Zukunft. Einige nutzen die Gelegenheit, ihre Steckenpferde zum x-ten mal zu reiten. Die Schnittmenge ist gross; tiefgreifende neue Überlegungen sind rar. Bei soviel grundsätzlicher Übereinstimmung, die letztlich nur in Nuancen und Details divergiert, fragt man sich, ob viele Angefragte (wie anscheinend Moritz Leuenberger) abgesagt haben – oder ob ausserhalb des juste milieu der Sozialdemokratie plus einfach wenige Leute angefragt worden sind, gerade zugewanderte, junge, vielleicht weniger prominente Personen. Solche, die zum Teil ohne politische Rechte, ja ohne Papiere bei uns – selten mit uns – leben, und sicher gerade zum Thema Heimat (oder Heimaten) Wichtiges beizusteuern hätten.
«Ds Heimet», die Heimat
Für mich stechen drei Beiträge heraus. Daniel Rothenbühler (*1951, Lehrer, Übersetzer, Literaturvermittler auch zwischen Romandie und Deutschschweiz) macht vor, wie zwei berühmte, aber auch schwierige Sätze verstanden werden können. Die Sätze: «Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfasst und das Seine ohne Entäusserung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.» So endet Ernst Blochs grosses Werk «Das Prinzip Hoffnung», 1600 Seiten, erschienen ab 1954. Rothenbühler geht dem Heimat-Verständnis des Philosophen auf den Grund, Ausgangspunkt ist das mundartliche Wort «ds Heimet», das zur grösseren Wirtschafts- und Lebensform des «ganzen Hauses» gehörte. Von da entwickelt er eine Bedeutungsgeschichte, die alle Aspekte der ursprünglichen Einheit umfasst: Herkunft, Zuhause, Gemeinschaft, Schutz und Recht – und die in den Satz mündet: «Was Heimat ist, macht heute im deutschen Sprachraum jede und jeder mit sich selbst aus. Heimatgefühle können nur mehr subjektive Gefühle sein.»
Auf Blochs Linie nennt Rothenbühler dann das Frauenstimmrecht, die Begrenzug der Arbeitszeit und die AHV als Anfänge der «Umbildung von Gegebenheiten» und folgert: «Die soziale Sicherheit, die in vorkapitalistischen Zeiten mit dem ‚Heimet‘ verbunden wurde, ist nicht mehr ortsgebunden, sondern gilt für die ganze arbeitende Bevölkerung und muss auch für diejenigen gelten, die nicht das Schweizer Bürgerrecht haben.» So bietet der Sozialstaat, der an der Wurzel der gesellschaftlichen Existenz aller ansetzt, für Rothenbühler ein Stück weit jene Heimat, auf die Bloch hinweist, hinhofft. Eine schöne und anregende Verdeutlichung.
«Einer für alle, alle für einen»
Aussergewöhnlich, da persönlich, auch Flavia Wasserfallens (*1979, Nationalrätin SP BE) Geschichte ihres Aufwachsens in einer alternativen Siedlung nahe Bern zu Beginn der 1980er Jahre. Unter dem Titel «Zäme geits» schildert sie eine pragmatische, gemeinschaftliche Lebensform mit definierten Zuständigkeiten und Ämtli ohne Abwart, mit der Schaffung gemeinschaftlich nutzbarer Plätze und Räume, Saisonputzete bis hin zum ersten Auto-Sharing, einem Genossenschaftsladen, einem Open-Air-Filmfestival. Diese «kleine» praktische Erfahrung bettet Flavia Wasserfallen ein in die grössere Form von Solidarität und Gemeinsinn, von Produktions- und Kreditgenosschenschaften, von gemeinschaftlicher Alpbewirtschaftung bis hin zu Bürogemeinschaften und zahlreichen Formen, etwas benutzen zu können, ohne es selber besitzen zu müssen, «weil es einem Ideal entspricht, da es ressourcenschonend und solidarisch ist» – und «weil weniger Brauchen und Teilen zufrieden, ja sogar glücklich machen kann.» Zum Schluss weitert Flavia Wasserfallen ihre Überzeugung, «die schweizerischer nicht sein könnte» auf das Feld der Wirtschaft aus und postuliert dafür mehr Demokratie durch Mitsprache, mehr Nähe und Gemeinsinn.
Pass als Privileg
Konkret schliesslich Guy Krnetas Schilderung der Herkunft seiner Familie und der Zufälle mit dem Schweizerpass, der – so schreibt er – ein Privileg sei. «Gibt es eine höhere Instanz, die darauf achtet, dass nur jene privilegiert zur Welt kommen, die dies tatsächlich verdienen, durch späteren Stolz und Dankbarkeit?». Krneta schildert differenziert sein Aufwachsen, seine Politisierung, seine zwiespältigen Erfahrungen mit der offiziellen Schweiz (hier die Verurteilung als Militärdienstverweigerer – dort der Werkbeitrag der Kulturstiftung Pro Helvetia). Sehr nuanciert auch die Haltung gegenüber der Polizei: «Eine grundsätzliche Ablehnung gegenüber der Polizei entwickelte ich nicht., Vielmehr war ich schon ein-, zweimal froh zu wissen, dass auch ich Polizeischutz erhalten würde, wenn ich ihn denn bräuchte. Und umso entsetzter und wütender bin ich jedes Mal, wenn ich von polizeilicher Willkür und Übergriffen erfahre. Und ich fordere, meinem Staat vertrauend, mehr demokratische Kontrolle und Transparenz.» Klar formuliert Guy Krneta die Erfahrung, wie anders es sich in unserem Land lebt ohne roten Pass. Und der Citoyen folgert: «Ich bin hier nicht Gast. Ich bin Gastgeber. Mir steht zu, mit diesem Land kritischer zu verfahren, (…) vielleicht bin ich sogar dazu verpflichtet.»
Hin und Her und Zurück
Es ist Zufall, dass das neue NZZ-Folio für Dezember 2019/Januar 2020 sich des Themas Heimat annimmt, ganz anders als das Buch «Unsere Schweiz», doch mindestens so interessant. In neuen Geschichten wird erzählt vom Weggehen, Heimkommen, Zu Hause-sein. Besonders erhellend ist Yeboaa Ofosus Bericht über ihre Entdeckungen in Ghana (dem Herkunftsland ihres betagten Vaters) und anderen afrikanischen Ländern, «Il fait chaud, en Afrique». Die in der Schweiz aufgewachsene Literaturwissenschafterin, die mit 19 Jahren zum ersten Mal nach Ghana flog, um zu sehen, wovon man ihr so viel erzählt hatte, unternahm seither rund 40mal diese Reise. «Ich bin es, die immer wieder jene Strecke macht, die mein Vater ursprünglich zurückgelegt hatte. (…) Was da als Afrika in mein Leben kam, ist unfassbar wertvoll. (…) Ich sehe mich reicher und reicher werden in dem Hin und Her und Zurück und wieder Hin vor dem Hintergrund der Migration meines Vaters.»
Unbedingt lesen.