«Ich bin die, die im Turm sitzt und auch fliegt»

von Sonja L. Bauer 21. Juli 2022

Nadja Keist ist eine der 17 Flugverkehrsleiterinnen und -leiter bei Skyguide auf dem Flughafen Bern in Belp. Ihre Arbeit beinhaltet Konzentration, Intelligenz und Verantwortung. Sieben Stunden dauert die Schicht, Pausen gibt es alle zwei Stunden. In der Freizeit fliegt die 23-Jährige selbst.

«Nur wenige wissen, was eine Flugverkehrsleiterin genau macht», sagt Nadja Keist. Falls sie jemandem auf Nachfrage sage, sie sei Fluglotsin, wüssten viele nicht, was genau dieser Beruf beinhalte. Dann sage sie: «Ich bin diejenige, die im Turm sitzt.»

Auf die Frage, was sie dort oben im Tower mache, sagt die 23-Jährige, die nach der Matura und der dreijährigen Ausbildung zur Fluglotsin bereits seit anderthalb Jahren im Beruf tätig ist: «Es gibt drei Arbeitsplätze. Links befindet sich der Platz namens Clearance Delivery. Die Flugfreigabe. Jener in der Mitte, der Tower selbst, regelt den Verkehr in der Kontrollzone. Also von der Piste bis auf ungefähr 1500 Meter. Ist also vor allem für den Verkehr am Boden zuständig. Für die Piste, für Starts und Landungen. Jener Arbeitsplatz rechts wird Approach genannt, Anflug.  Er kontrolliert die An- und Abflüge bis auf 3000 Meter. Und kontrolliert auch den Flugraum zwischen Genf, Zürich und Basel.» Denn für diesen grossen Luftraum sei explizit der «Approach» in Bern zuständig.

Begeistert von der Aviatik

«Bereits im Gymer wollte ich Berufspilotin werden», sagt die Zielbewusste, nun sei sie Lotsin geworden. Aviatik begeistere sie seit jeher. Sind ihre Eltern Aviatik-affin? «Nein, sie hatten beruflich nichts mit Fliegen zu tun, aber mein Vater hatte einen Flugsimulator. Da hab ich als Kind zugeschaut.» Warum sie Lotsin lernte, begründet Nadja Kleist so: «Ich war erst 18, als ich mit dem Gymer fertig war, für die Selection der Swiss war ich damals zu jung. Dafür muss man zwanzig sein.» Sie habe nicht gewusst, wie man in die Welt der Fliegerei reinkomme, «deshalb wollte ich erst mal privat fliegen lernen».

Im Jura begann sie privat die Ausbildung zur Segelfliegerin, die sie aufgrund ihres heutigen Berufs noch nicht beendet hat. «Aber ich habe inzwischen den Flugunterricht wieder aufgenommen.» Zudem machte sie die Privatpilotenlizenz. «Damit darf ich einmotorige Kleinflugzeuge fliegen.» Durch die Segelfliegerei habe sie viele Menschen kennengelernt. Sie sind alle vernetzt miteinander, so habe sie schliesslich auch von der Ausbildung zur Flugverkehrsleiterin gehört und einen Schnuppertag besucht (diese organisiert sie heute selbst). «Der Aufnahmeprozess dauerte länger als drei Monate.» Vieles werde getestet. Darunter auch die Fähigkeit, dreidimensional lenken zu können. Das erste Ausbildungsjahr absolvierten die Lernenden in Dübendorf.

Verantwortungsvoller Beruf

Der Flughafen Bern ist kleiner als Zürich. Bedeutet dies weniger Verantwortung? Nadja Keist dementiert vehement. Auch wenn die Firma Skywork nicht mehr vor Ort sei, so werde es niemals langweilig. «In Bern ist der Verkehr viel abwechslungsreicher.» Zürich sei sehr anspruchsvoll. «Aber es gibt niemals eine so grosse Variation an Verkehr wie hier. In Zürich starten und landen ähnliche Flugzeugtypen, die ähnliche Geschwindigkeiten einhalten. In Zürich sind die Pilotinnen und Piloten alle professionell, die meisten sind wohl Linienpiloten, die viel Erfahrung haben.» In Bern hingegen habe es ein grosses Spektrum. Auf dem Flughafen Bern flögen viele verschiedene Flugtypen und Menschen aller Flugniveaus. «Wir haben zwei Helikopter-Flugschulen vor Ort, die Swisshelis und die Mountainflyers. Die Rega und die Lions Air sind vor Ort. Wir haben einen Luftwaffenstandort, den Lufttransportdienst des Bundes, LTdB. Umgangssprachlich würde man Bundesratsjets dazu sagen. Sie sind alle hier stationiert.» Zwar flögen von Bern aus keine Kampfjets. Aber Chartermaschinen. «Von hier aus werden zwölf Feriendestinationen angeflogen.» Und, was nicht vergessen werden dürfe: die Drohnen. Ausserdem, so Nadja Keist: «Stell dir vor, du hast einen Jet im Anflug, der nicht langsamer fliegen kann als 120 Knoten, dies entspricht einer Geschwindigkeit von fast 220 km/h. Gleichzeitig befindet sich ein langsamer Super Cup im Endanflug, der vielleicht noch 60 km/h fliegt, also ein Viertel davon.» Dies alles müsse einberechnet werden. «Während der letzten 100 Meter hat der Jet von hinten aufgeholt. Er braucht eine freie Piste …» Die unterschiedlichen Geschwindigkeiten machten die Arbeit extrem verantwortungsvoll.

Einer der grössten Ausbildungsflughäfen

Aber auch das unterschiedliche Niveau der Pilotinnen und Piloten sei herausfordernd. «Bern ist ein Ausbildungsflughafen.» Niemand werde als Pilot geboren. «Wir müssen es alle irgendwo lernen. Und dies geschieht selten in Zürich, sondern vor allem in Bern oder Grenchen und wenigen anderen.» Bern sei einer der grössten Ausbildungsflughäfen der Schweiz. «Wir haben Flugschulen von überall her.» Viele übten hier den Instrumentenanflug. «Es gibt Piloten, die sind noch völlig unerfahren, üben hier den ersten Alleinflug oder lernen das Funken.»

Die Fluglotsinnen müssten auf alle Personen und ihre Bedürfnisse eingehen können. «Wenn ein Lotse in Zürich einen Piloten um etwas mehr Geschwindigkeit bittet, funktioniert es meistens. Hier ist dies nicht immer so. Einfach, weil er es noch nicht kann.» Auf einem grossen Flughafen gehe es vor allem darum, dass alles reibungslos und schnell funktioniere. Hier sei dies auch so, «aber wir müssen uns jeden Tag auf neue Menschen und neue Jets einlassen». Zudem sei die Topografie eine Herausforderung. «In Bern sind die Berge näher, die Distanzen kürzer.» Die Ausbildung zur Flugverkehrsleiterin sei anspruchsvoll gewesen, sagt die zielstrebige und bescheidene Keist. «Wir sind ein Team, alle helfen einander.» Damit spricht sie auch das Team an, das Pilotinnen ausbildet.

Fast das zweite Zuhause

Der Flughafen Bern ist für Nadja Keist, die in Gurmels aufwuchs und in Bern lebt, zum zweiten Daheim geworden. In der Freizeit verbringt sie ganze Wochenenden dort.

Damit sie die Arbeit bei voller Konzentration schafft, sei ihr regelmässige und gesunde Ernährung wichtig. «Und meine acht Stunden Schlaf pro Nacht sind mir heilig.» Nicht alle seien gleich. Sie aber wisse von sich selbst, dass sie sonst weniger gute Leistungen erbringe. «Und das kann ich mir in diesem Beruf nicht erlauben.»

Disziplin wird also vorausgesetzt. Ist es denn überhaupt möglich, ein Privatleben zu haben, eine Beziehung zu führen? Keist lacht: «Ich gehe nicht an Partys, wenn ich am nächsten Morgen Frühschicht habe.» Dafür habe sie mal unter der Woche frei. Überhaupt sei jeder Tag anders und das gefalle ihr extrem. Und: «Ja, ich habe einen Freund. Christian Jaeggi ist Regajetpilot.»

Zielstrebig, ehrgeizig und organisiert

Sieben Stunden beinhaltet eine Tagesschicht, wobei es alle zwei Stunden Pausen zu 20 Minuten und 50 Minuten gibt. «Je nach Pausenablösung der Kolleginnen und Kollegen.»

Wer sich zur Fluglotsin oder zum Fluglotsen ausbilden lassen will, darf nicht älter als 30 Jahre sein, damit davon ausgegangen werden kann, dass das Hirn präzise und schnell funktioniert, sprich reagiert. Arbeiten darf man bis sechzig. «Jedes Jahr müssen wir uns medizinisch durchchecken lassen.» Daraufhin gebe es ein sogenanntes «Medical», das die Gesundheit attestiere. Und was ist mit Liebeskummer? «Auf alle Arten von Unwohlsein nimmt die Firma Rücksicht und lässt uns daheim bleiben. Schliesslich geht es darum, fit zu sein.»

Und was ist mit Angst und Unsicherheit? «Ja, am 1. Juli waren es gerade zwanzig Jahre seit dem Unfall von Überlingen. Aber daran darf man nicht dauernd denken.» Schliesslich gäben die Lotsen ihr Bestes. Und bei dieser schrecklichen Kollision seien nicht allein sie schuld gewesen. «Unfälle bedingen meistens eine Kombination von Fehlern verschiedener Menschen, Systeme und der Umwelt.»

Alle Lotsinnen und Lotsen seien top ausgebildet und versuchten, alles im Griff zu haben. «Man darf nicht dauernd im Hinterkopf haben, dass etwas passieren könnte, sonst kann man sich nicht konzentrieren.» Wichtig sei das Wissen um die Verantwortung. «Doch wir müssen uns auf den Moment fokussieren können.» Sie liebe ihre Arbeit. «Wir haben stressige Tage, nach denen ich wirklich müde bin, und solche, die ruhiger sind. Aber langweilig ist es mir nie. Und das finde ich enorm cool.»

Dieser Text erschien zuerst in der Zeitung «Berner Landbote».