Horrenbach, Hellikon und Hinterfultigen

von Christian Pauli 21. Februar 2014

Das Land wirft in der Stadt Fragen auf. Unser Autor steht mit je einem Bein auf beiden Seiten des Grabens.

Seit dem Masseneinwanderungssonntag schwärmen Journalisten aus der Stadt aufs Land, um das «Ja gegen Ausländer» zu ergründen – in jenen Gemeinden, die gar keine solchen haben. Es scheint, als wäre die Schweiz für jene, die sie definieren wollen, um ein paar Rätsel reicher geworden. Verwundert reibt man sich in den Städten die Augen. Was sind das für Menschen, die so abgesondert ticken?

Die Erklärung nimmt mitunter pathologische Züge an: Hellikon und Horrenbach sind, so wird geschrieben, ausgepowerte Orte (geworden), die um Leben und Tod kämpfen, die unter Schmerzen leiden, auch wenn diese nur Phantom sind. So die Sicht der Städter aufs Land.

Ich möchte gar nicht wissen, was meine Nachbarn hier oben gestimmt haben.

Christian Pauli

Hinterfultigen im Berner Hinterland ist meine Teilheimat geworden, auch wenn ich nach wie vor in der Stadt und durchs Band städtisch abstimme. Das Gesamtergebnis in der Gemeinde Rüeggisberg, zu der Hinterfultigen gehört, ergab 509 JA gegen 240 Nein. 2:1 – eine klare Sache. Ich weiss nicht, was meine Nachbarn hier oben gestimmt haben. Ich habe sie nicht gefragt. Ich möchte es gar nicht wissen. Mich treibt eher die Frage um: Wer sind diese 240 Nein-Sager?

Ich habe festgestellt, dass hier in letzter Zeit auch Deutsche heimisch geworden sind. Es sind die, die mich ansprechen und zum Znacht einladen. Per 1. Januar 2014 wohnen in Rüeggisberg 1856 Menschen, darunter sind 54 Ausländerinnen und Ausländer. Im Gemeindeblättchen werden die Zuzüger alle zwei Monate aufgeführt. Es freut mich jeweils, wenn darunter fremdländisch klingende Namen sind.

Ich werte es als Zeichen für die Normalisierung der Schweiz, dass in Hinterfultigen auch Deutsche heimisch geworden sind. Seit dem Abstimmungssonntag frage ich mich allerdings auch, ob die 54 Fremdländischen in der Gemeinde Rüeggisberg sich noch als normal betrachten dürfen.

Wenn ich heimfahre, abends mit dem ÖV, von Bern via Thurnen und Riggisberg nach Hinterfultigen: Die S-Bahn – voll. Das Postauto ab Thurnen – mehr als voll. Das kleine Postauto ab Riggisberg nach Fultigen – leer. Weg ist er, der Dichtestress. Nur der Chauffeur und ich. Oder fast leer. Oft steigt in Rüeggisberg der ältere Mann mit den weissen Haaren und der schwarzen Mappe ein, der in Vorderfultigen wieder aussteigt. Dann bin ich wieder alleine mit Fritz, dem Chauffeur. Er hält am Kreuzweg an, obwohl dort keine offizielle Haltestelle ist.

Warum nehmen Schweizer Städter die Seelenlage der Landmenschen so ernst?

Christian Pauli

Dann geh ich zehn Minuten durch die totale Dunkelheit. Ich weiss schon, dass jetzt gleich der alte Bühlmann um die Ecke biegt, der die Milch in die Käserei auf der anderen Seite des Schwarzwassers gebracht hat. Am Horizont leuchten schwach die Lichter der Stadt, die hier nur knapp zwanzig Kilometer und eine knappe Stunde ÖV entfernt sind. Es ist mir jedes Mal eine kleine Weltreise, die stets von neuem fasziniert.

Warum nur nehmen wir Schweizer Städter die Seelenlage der Landmenschen so ernst? Dem Bewohner einer Metropole ist das Land mit seinen Menschen doch so lang wie breit. Nicht so in der Schweiz. Das Land bestimmt nach wie vor unsere Identität. Wir sind Berner, und erzählen Freunden im Ausland begeistert davon, dass wir die Walliser, die ja nur ennet den Bergen leben, manchmal fast nicht verstehen.

Dabei droht uns unsere Identität, die wir kleinräumig in Berg und Tal ergründen, zunehmend abhanden zu kommen. Die Metamorphose, die Hinterfultigen in den letzten vierzig Jahren durchlaufen hat, ist zwar auf den ersten Blick wenig spektakulär. Noch immer sind es zwei, drei Bauernfamilien, die dieses Dorf, das eher ein Weiler ist, prägen. Wenige Agglohäuschen, fast alles sieht hier noch aus wie früher.

Die Käserei, die Post, die zwei Lädeli, die Schule – all das aber ist verschwunden. Kein Mensch scheint es zu bedauern. Im Auto ist der Supermarkt in Schwarzenburg keine zehn Minuten entfernt. Auto fahren tun hier sowieso alle und reichlich, ausser die leicht irren Zugewanderten.

An guten Tagen spüre ich hier eine gewisse Gelassenheit.

Christian Pauli

Im Film «Suberg» geht es um die Seele, die dem Dorf abhanden gekommen ist. Im Falle von Hinterfultigen aber ist es anders. Hier grüsst der Nachbar, wenn er vorbei fährt. Beim Spaziergang bleibt man stehen, um ein paar belanglose aber sozial entscheidende Worte auszutauschen.

An guten Tagen spüre ich hier eine gewisse Gelassenheit: Wir habens gut und ruhig. Am Freitagabend nach getaner Arbeit trinken wir ein paar Bier. Im Sommer werfen wir den Grill an und laden unsere Nachbarn ein. So einfach kommt mir hier oben manchmal das Leben in unserem zerrissenen Ländchen vor.