Hommage an ein tönendes Wunderkistchen

von Rita Jost 15. Oktober 2021

«Querstaunen» könne man dieses Buch, schreiben die Autoren im Vorwort. Ein besseres Wort gibt’s wohl nicht für die Art und Weise, wie man das Örgelibuch von Beat Hugi und Thomas Aeschbacher geniessen kann. Auch als absoluter Laie, als totale Banausin.

Über 400 Seiten, jede Menge Details, Informationen, ein 40-seitiger Glossar… ist das nicht ein bisschen übertrieben für ein Instrument, das jenseits der Schweizergrenze so gut wie unbekannt ist? Könnte man fragen. Könnte man…. Wer allerdings das Buch «Langnauerli, Stöpelbass, Schwyzerörgeli» in die Hand nimmt, stellt fest: keine Seite zuviel! Für 49 Franken hat man zudem zwei Musik-CDs. Also eine Entdeckung. Zum querstaunen tatsächlich!

Aufgefächert

Es gibt tatsächlich viel zu erzählen, zu dokumentieren, zu entdecken rund um das «Langnauerli», das 1836 erstmals in der Langnauer Familie Hermann gebaut und danach jahrelang vor allem in Berner Bauernstuben gespielt wurde. Aber auch seine «Erweiterungen» sind ergiebig: der Stöpselbass und das Schwyzerörgeli.

Man muss kein Örgelifan sein, um dieses Buch geniessen zu können, aber man könnte es bei der Lektüre vielleicht werden. Denn die beiden Autoren vermitteln weit mehr als reines Fachwissen. Da werden das Innen- und das Rundumleben eines Instruments aufgefächert; Geschichte und Geschichten ausgebreitet, dass es einem unweigerlich «dr Ermu ine-nimmt».

Verziert oder pur

Die Autoren haben rund 30 Örgelivirtuosen besucht. Ausgiebig zu Wort kommen aus dem Bernbiet etwa die Schmid-Buebe, seinerzeit auch «Beatles der Volksmusik» genannt, und die Eggiwiler Wüthrich-Brüder, die Schwestern Evelyne und Kristina Brunner und Katja Bürgler aus dem Toggenburg, die an der Musikhochschule Luzern als erste Absolventin Musik mit Schwerpunkt Volksmusik studiert hat. Und natürlich wird auch Werner Aeschbacher porträtiert, der Vater von Mitautor Thomas Aeschbacher. Er ist mittlerweile einer der bekannteste Örgelispieler im Land. Er hat mit seiner ungewohnten und vielseitigen Spielweise zur Neuentdeckung des Instruments in breiten Kreisen beigetragen. Er bezeichnet sich selber übrigens lieber als Musikant, nicht als Musiker.

Wer sagt denn, örgelen sei nur etwas für ältere Semester? Loris Imlig (mitte) und Dominik Flückiger treffen sich seit Jahren zum Spielen. (Foto: Markus Steinmann)

Unbekanntes, Überraschendes und Erstaunliches begegnet einem auf jeder Seite. Man erfährt z.B., warum die ersten Instrumente «Härpfli» (kleine Harfen) genannt wurden, warum auf einem Langnauerli gewisse Töne nicht gespielt werden (können), warum Karton ein wichtiger Bestandteil jedes Örgelis ist (und warum das Falten dieses Rohstoffs eine Wissenschaft für sich ist), warum die einen Örgeli reich mit Edelweiss und Schweizerkreuzen verziert sind – und die andern ganz «pur» daherkommen (und trotzdem Topinstrumente sein können) und, und, und …

Ein Boominstrument

Man erfährt auch (und staunt vielleicht ein bisschen), dass das ehemalige Bauerninstrument seit einigen Jahren von immer mehr und vor allem immer jüngeren Musikern gespielt wird, und dass derzeit alljährlich rund 4000 neue Instrumente Abnehmer finden. Neue Langnauerli gibt es allerdings nur wenige, das alte Handwerk stirbt aus: Nur noch in Schüpbach und Wattenwil entstehen bei Magdalena Blaser bzw. Ruedi Schüpbach neue Langnauerli. Der grösste Berner Örgelibauer Hansruedi Reist, der in Wasen vierzehn Mitarbeiter*innen beschäftigt, hat vor einigen Jahren diversifiziert. Notgedrungen, sagt er, sonst hätte er Leute entlassen müssen.

Nebst vielen Details über den Bau, das Stimmen und Spielen bietet das Buch auch Texte von «Outsidern», die über Begegnungen berichten, die ihnen Augen und Ohren öffneten für das kleine Wunderkästchen. Zu Wort kommen etwa die Schriftsteller und Wortakrobaten Pedro Lenz, Franz Hohler und Walter Däpp, die hin und wieder mit Werner Aeschbacher auftreten.

Zwei Virtuosen im Duett: Werner Aeschbacher und der Innerschweizer Seebi Schmidig. (Foto: Markus Steinemann)

Auch ehemalige Skeptiker und «Bekehrte» schreiben, wie sie das Instrument für sich entdeckt haben. Und wer plötzlich wirklich gwunderig wird auf diese Instrumente, der freut sich wohl über die Nachricht, dass es unterdessen – dank einem Götti-/Gotte-Prinzip – an der Musikhochschule Luzern «Örgeli zum Kennenlernen» gibt.

Ein Langzeitprojekt

Das Ganze liest sich spannend und leicht, weil die beiden Autoren zwei Dinge vereinen, die einem Fachbuch nur gut tun: das Fachwissen und die Fähigkeit dieses Wissen journalistisch gekonnt und ansprechend aufzubereiten.

Beat Hugi, Journalist, Autor und Kulturvermittler, und Thomas Aeschbacher, passionierter Örgeler, Musiklehrer, Jazzmusiker und Mitbegründer der Gruppe «Pflanzplätz», haben über Jahre zusammengetragen, was heute über die drei urschweizerischen Instrumente bekannt ist. Und sie haben die oft gegen einander ausgespielten Instrumente gleichwertig in einem Buch vereint. Sie zeigen das ganze Spektrum der Musikszene auf: die Traditionalisten und die Frömdfötzligen, die Stegreifmusiker aus Vergangenheit und Gegenwart, die heutigen Koriphäen, die Hardcore-Insider und die innovativen Erneuerer.

Örgelibauer Köbi Jeker bei der Arbeit in seiner Werkstatt in Schiers. (Foto: Markus Steinemann)

Als Glückfall erweist sich, dass bei den Besuchen auch immer ein Fotograf mitging. So bekommt der Leser/die Leserin das Gefühl immer hautnah dabei zu sein – in den Werkstätten, beim Stimmen und Musizieren. Es sind ungewöhnliche Fotos entstanden von knorrigen und freakigen, jungen und älteren, lernenden und lehrenden, spielenden und fachsimpelnden Örgelifans.

Fazit: ein Buch über ein Wunderkistchen, das man nach der Lektüre dieses Buchs nie mehr als simples Ländlerinstrument bezeichnen wird, ein Instrument, das man immer lieber bekommt, das man vielleicht sogar spielen (lernen) möchte. Für letztere gibt es eine gute Nachricht: man kann es tatsächlich lernen, aber auch jederzeit an diversen Anlässen geniessen. Das Buch liefert auch hierzu jede Menge Informationen und Adressen. Und dank den zwei CDs kann man sich auch gleich anhören, wie es idealerweise tönt.

 

Das Buch «Langnauerli, Stöpselbass, Schwyzerörgeli – das Spiel, das Handwerk, die Virtuosen» ist im Weberverlag Thun erschienen und kostet inkl. zwei Hör-CDs Fr. 49.–. (ISBN 978-03818–296–2)

Am 27. Oktober 2021 feiern die beiden Autoren das Erscheinen mit einer Örgeli-Gala und vielen spielenden Gästen im Theater Langenthal (20.00). Karten gibt es im Vorverkauf unter www.stadttheater-langenthal.ch.