Die Graffitis sind noch da, die meisten Hinterlassenschaften der Zwischennutzung sind aber entsorgt. Und jetzt wird erstmals ersichtlich, wie riesig der Bauplatz für die Überbauung Holliger ist. Neben Baugruben und Schutthügeln erhebt sich das ausgehöhlte ehemalige Lagerhaus. Die Umbauarbeiten zu einem Wohnhaus haben begonnen. Die fünf Neubauten entstehen später gestaffelt.
Bis 2025 werden auf dem Areal der ehemaligen Kehrichtverbrennungsanlage am Warmbächliweg sechs mehrgeschossige Wohnblöcke stehen (Journal B berichtete). Sie werden von verschiedenen Architekten geplant, werden äusserlich verschieden sein, aber sie sollen gemeinsame «Begegnungsräume» haben: eine KITA, einen Kindergarten, einen Laden, ein Bistro, Gemeinschaftsräume, Arbeitsplätze und Ateliers. Es soll sich – so das erklärte Ziel der Infrastrukturgenossenschaft Holliger ISGH – in diesem sehr verdichtet gebauten neuen Quartier «ein vielfältiges Leben entwickeln». Wer hier dereinst wohnt, soll seine Umgebung aktiv mitgestalten können und sich mit seinem Wohnort identifizieren.
Unterschiedliche Ideale…
Wie schafft man das – mit unterschiedlich ausgerichteten Baugenossenschaften, die wohl auch je unterschiedliche Mieterschaften ansprechen? Die junge Wohnbaugenossenschaft Warmbächli, deren Gebäude gegenwärtig «ökologisch, sozial und wirtschaftlich nachhaltig» um- und nicht neugebaut wird, legt grossen Wert auf Generationenwohnen und hat hohe Ideale in Bezug auf Partizipation der Bewohnenden. Sie plant beispielsweise nebst 3-, 4- und 5-Zimmerwohnungen auch neun Grosswohnungen für bis zu 12 Personen (Mietkosten monatlich 6000 Franken) und Jokerzimmer für weniger als 300 Franken. Die Eisenbahner Baugenossenschaft Bern und Fambau, deren Gebäude später entstehen, sind vergleichsweise weniger innovativ. Die beiden Genossenschaften haben aber 100 bzw. 75 Jahre Erfahrung als Vermieter, Vermittler und Verwalter und kennen auch verschiedene Mitwirkungsformen.
… ein gemeinsames Areal
Wenn sechs Bauträger auf einem zusammenhängenden Terrain Wohnungen anbieten, dann prallen innerhalb dieser Siedlung verschiedenste Ideen und Ideale aufeinander. Um diese bereits im Voraus zu kennen und zu koordinieren haben die verschiedenen Bauträger die AG Generationenwohnen gegründet. Diese kümmert sich bereits heute um das Zusammenleben, denkt an die Ausgestaltung der Aussenräume und die Gründung eines Siedlungsvereins. Mit Olivia Kaufmann ist bis zur Aufnahme des Betriebs auch eine Sozialplanerin am Werk. Sie wird die partizipativen Strukturen aufbauen. Die 32-jährige Sozialarbeiterin hat ein Diplom in Management von Wohnbaugenossenschaften und weiss, was auf sie zukommt. So viele Vorstellungen unter einen Hut zu bringen, sei «schwierig, aber auch sehr spannend». Die grösste Herausforderung werde wohl das Zusammenwachsen der Mieterschaft sein. «Das Engagement und die Bereitschaft, sich für das Siedlungsleben aktiv einzubringen, dürften ziemlich unterschiedlich sein», vermutet sie, «schon nur, weil die Bauten gestaffelt bezogen werden. Der Bezug der Wohnbaugenossenschaft Warmbächli ist ja bereits im nächsten Jahr geplant. In die anderen Bauten ziehen die BewohnerInnen erst in zwei bis vier Jahren ein. Wer als letztes kommt, wird also eine bereits bestehende Gemeinschaft antreffen.» Umso wichtiger sei es, so Olivia Kaufmann, dass frühzeitig Leitlinien für das Zusammenleben bestehen. Und dass man zum Beispiel auch bereits an den Einbezug der Mieter in die Gestaltung der Gemeinschaftsräume denkt.
Der Knackpunkt
Ist es da nicht ein Nachteil, dass vorläufig nur die Vertreter der Genossenschaften, nicht aber der BewohnerInnen selber in den Planungsgremien sitzen? Olivia Kaufmann verweist auf die Tatsache, dass spätestens mit dem Bezug des ersten Hauses in ca. einem Jahr die BewohnerInnen in die Sozialplanung einbezogen werden. Aber sie verhehlt auch nicht, dass genau dieser Übergang einer der Knackpunkte sein könnte. Immerhin: schon die Vorarbeiten, die als Austausch unter den sechs Genossenschaftsvertretern passierten, haben einiges bewirkt: «Wir haben zum Teil ganz unterschiedliche Vorstellungen, aber auch viele gemeinsame Ziele. Ein Ergebnis dieser Gespräche ist zum Beispiel, dass es nun einen grossen Gemeinschaftsraum für alle Holliger-BewohnerInnen gibt, und nicht mehrere kleinere.»
Olivia Kaufmann, die momentan für die Fambau auch die Entstehung einer Siedlung in Niederwangen sozialplanerisch begleitet, ist überzeugt, dass gerade Gemeinschaftsräume viel zu einem guten Siedlungsgeist beitragen: «Ein Gemeinschaftsraum ist wie ein erweitertes Wohnzimmer, es soll ein Raum sein, wo man gerne hingeht, wenn man Gäste hat und gemeinsam Feste feiert.»
Die Pionierarbeit
Vieles ist pionierhaft in der geplanten Siedlung Holliger. Vieles muss in dieser Grössenordnung erstmals gedacht, geplant und angepackt werden. Und es gibt in nächster Nähe noch eine weitere Überbauung mit ähnlichen Voraussetzungen und Zielen: das Projekt Huebergass, das die Halter AG auf dem Areal der früheren Schrebergärten zwischen Loryplatz und Ausserholligen baut. Auch hier entstehen auf Stadtboden preisgünstige Genossenschaftswohnungen mit verschiedenen gemeinschaftlich genutzten Räumen, einem Bistro, Ateliers und einer Kita. Und auch hier wird der Bau sozialplanerisch begleitet. Holligen wird also in den nächsten Jahren so etwas wie ein urbanes Zentrum und ein Labor in Sachen genossenschaftlicher Wohnformen.
Das Labor
Dafür ist es auch höchste Zeit. Lange war Bern in Sachen Baugenossenschaften nicht gerade eine Vorzeigestadt. Heute sind nur rund 8000 oder 10 Prozent der Wohnungen in den Händen gemeinnütziger Trägerschaften. In den nächsten Jahren kommen aber mit der Überbauung Holliger und der Huebergass nun zwei weitere Projekte dazu. Später soll es im Burgernziel (auf dem Areal des alten Tramdepots) und auf dem Viererfeld weitere geben.
Inwiefern neue Wohnformen und das Wohnen in partizipativen Wohngenossenschaften das Zusammenleben und das Wohlbefinden der Mieterschaft beeinflussen, wird übrigens auch wissenschaftlich erforscht. Die Bernerin Sanna Frischknecht schreibt an der Uni Basel eine Dissertation zum Thema «Transformative Gemeinschaften als innovative Lebensformen?».