Nur wenige waren am Samstagnachmittag in das Schlachthaus Theater gekommen zum Auftakt der Solidaritätswoche für Belarus. Schade, dass es – dem Tempo der spontan organisierten Aktion geschuldet – nicht möglich gewesen war, auf die Veranstaltung gebührend hinzuweisen. Viele wussten nicht, dass diese stattfand. Sie haben etwas verpasst. Doch es gibt anderswo in der Stadt weitere Anlässe.
Belarus
Die Republik Belarus ist das Land, das ehedem Weissrussland genannt worden ist. Es wurde 1991 unabhängig und zählt fast 10 Millionen Bewohnerinnen und Bewohner. Das Binnenland ist umgeben von der Ukraine, Polen, Litauen, Lettland und im Osten vom grossen Nachbarn Russland. Seit 26 Jahren regiert der Diktator Lukaschenko, der Anfang August seine Macht mit Wahlfälschungen verteidigte und sich letzte Woche in geheimer Zeremonie selbst vereidigte. Die Wahl wird von den Staaten der EU nicht anerkannt. Seit fast zwei Monaten protestieren Woche für Woche sehr viele Belarusinnen und Belarusen vor allem in der Hauptstadt Minsk gegen Lukaschenko, der mit unfassbarer Härte die Polizei, Soldaten und Geheimdienstleute gegen die eigene Bevölkerung einsetzt und Unterstützung bei Russlands Präsidenten Putin sucht. Hunderte oder Tausende der Protestierenden sind brutal geschlagen, inhaftiert, gefoltert worden. Die vier Hauptfiguren der Opposition – Swetlana Tichanowskaja, Veronika Zepkalo, Maria Kolesnikowa und Maxim Snak – sind ausser Landes gewiesen worden oder in Haft. Auf freiem Fuss und von EU-Diplomaten in der eigenen Wohnung beschützt, ist vom Koordinationskomitee einzig noch die Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch; auch sie ist am 28. September zu ihrer Sicherheit nach Deutschland ausgereist.
Solidaritätswoche in Bern
Um die Verbundenheit mit den Menschen und besonders den Kulturschaffenden in Belarus zu bekunden, setzen Valerian Maly (Dozent an der Hochschule der Künste), Klara Schilliger, die Leiterinnen des Affspace (Paula Sansano und Meret Arnold), die Buchhandlung zum Zytglogge (Gabriela Bader), Münsterorganist Daniel Glaus und die Bäckerei Bread à Porter (um Patrik Bohnenblust) in der Zeit vom 26. September bis zum 10. Oktober eine Vielzahl von Zeichen. Sie fordern uns auf, hinzuschauen auf das, was quasi vor unserer Haustür in Belarus geschieht. Die Kulturschaffenden sind für uns «L’oeil et les oreilles extérieures», wir müssen ihnen nur unser Ohr leihen und von ihnen unseren Blick leiten lassen – oder im Fall von «Zoyas Brot» unseren Gaumen und Geschmack.
Die Aktion ist spontan entstanden als Antwort auf die Selbstbefragung: Wo kann ich mich persönlich gegen Unrecht und Gewalt einsetzen? Wo bin ich direkter als überall betroffen? Und was kann ich tun, um hier und jetzt Menschen anzuregen, «den Denkmuskel zu trainieren», wie die belarusische Kuratorin Iryna Herasimovich wünscht? Und wie kann Belarus als europäisches Land ins Bewusstsein gehoben werden?
Schlachthaus Theater
Am Samstag trafen sich zum Start der Aktionswoche im Schlachthaus Franz Hohler, Gerhard Meister, Ilma Rakusa, Artur Klinau, um Zeugnis abzulegen von eigenen Erfahrungen in Belarus, über Freundschaften mit belarusischen Kolleginnen und Kollegen zu berichten und unsentimental, aber sehr informativ über das Land und seine Kulturschaffenden zu reden. Ilma Rakusa fasste die Lage präzis zusammen und forderte zur Unterstützung der Menschen und zur Bekämpfung des Regimes auf.
Digital zugeschaltet wurden unter anderen Lukas Bärfuss und Jonas Lüscher. Nach dem Rezept der Schauspielerin Zoya Belachvostik buken Maly und Schilliger «Zoyas Brot» mit Sauerteig und Kümmel. Den Nachmittag hindurch fiel auf, wie dicht die Verbindungen schweizerischen Autorinnen und Autoren mit Künstlerinnen und Künstlern aus Belarus sind, wie intensiv der Austausch durch die Übersetzung von Büchern, durch Lesungen (etwa im Goethe-Institut von Minsk), durch Seminare mit Studierenden und Lehrpersonen.
Belarus ist, das lernte ich, ein europäisches Land, das während Jahrhunderten immer wieder grösseren Reichen in seiner Nachbarschaft zugeschachert worden ist (Litauen, Polen, Russland), ähnlich wie es mit Polen geschah. Belarus hat eine eigene Sprache mit zahlreichen Dialekten, in der eine reiche Literatur wurzelt. Diese Literatur ist Teil einer starken Kultur, die sich allen geschichtlichen Wirrungen zum Trotz behauptete und auch politisch auf Selbstbestimmung drängt.
Affspace
Der Affspace (der Offspace für Architektur) zeigt in einem sehr kleinen Raum Fotos von Artur Klinau; sie geben einen Eindruck der riesigen Architektur von Minsk, die das menschliche Mass übersteigt.
Minsk, die Hauptstadt von Belarus, zählt etwa 2 Millionen Bewohnerinnen und Bewohner. Die ehedem stark jüdisch geprägte Stadt, wurde während des Russland-Feldzugs von der Hitlerschen Wehrmacht weitgehend zerstört. Nach dem Krieg bauten die Sowjets Minsk als ideale Stadt wieder auf und verwirklichten damit die kommunistische Utopie mit breiten Boulevards, Palästen und riesigen Plätzen. Minsk ist, wie Reisende berichten, extrem sauber, die Menschen der Grossstadt sind freundlich.
In Umkehr des 68er Satzes «Das Private ist politisch» gilt in Minsk «Es gibt nichts Privates im öffentlichen Raum». Der Architekt, Künstler und Publizist Artur Klinau hat 2006 das Buch «Minsk – Sonnenstadt der Träume» veröffentlicht, eine Geschichte des neuen Minsk, ein Bericht des eigenen Aufwachsens inmitten staatlich verordneten Glücks.
Das Glück ist trügerisch. Im Epilog seines Buchs schreibt Klinau über das diktatorische System in der Stadt und im ganzen Land: «Der Zement, der es zusammenhielt, war die Angst. Die Angst, entlassen zu werden; die Angst, von der Universität relegiert zu werden; die Angst, seine Geschäfte nicht mehr tätigen zu können; die Angst, verhaftet zu werden; die Angst, dass das Eigentum konfisziert wird. (…) Am Vorabend der Wahl hatten die Behörden alles getan, um die Angst auf ein Maximum zu steigern. Sie hatten präventiv verhaftet, vorgeladen, eingeschüchtert. (…) Und doch gingen Zehntausende auf die Strassen – sie betraten ein Territorium, auf dem schon seit vielen Jahren Demonstrationen gegen die Regierung verboten waren Sie errichteten ihre Zeltstadt im Herzen der Sonnenstadt.»
Die Wahl, von der die Rede ist, war jene 2006. Wie es 14 Jahre später ist, jetzt, verfolgen wir in den Medien.
Ausgestellt werden im Affspace zudem zwei dokumentarische Videos künstlerischer Aktionen von Michail Gulin («Personalmonument» und «Territorium des Protests») sowie die Videoarbeit «Reinheit» von Antonias Slobodtschikowa und Tanya Haurylchyk. Gefilmt wird, wie weisse Speisen auf einem weiss gedeckten Tisch langsam verschimmeln und verderben und in einem gelb-braunen Gemenge zusammenfliessen. Man kann dies als Kommentar zur Sauberkeit von Minsk deuten oder als Mahnung vor dem Zerfall jeder Ordnung.
Die Gesamtausstellung steht unter dem Titel «Neuformatierung des Raums». Kuratiert haben sie Iryna Herasimovich aus Minsk, Kulturvermittlerin und Übersetzerin u.a. der Werke von Lukas Bärfuss, Ilma Rakusa und Jonas Lüscher; und Seraina Renz, Chur, Kunsthistorikerin, Kuratorin und Kunstkritikerin mit Schwerpunkt zeitgenössische Kunst aus Mittel- und Osteuropa.
Vernissage ist am Donnerstag, 1. Oktober um 18 Uhr. Um 18:30 Uhr findet digital eine Diskussion mit den Künstlerinnen und Künstlern statt, bei der aus dem Belarusischen übersetzt wird.
Münster
Heute Dienstag, 29. September um 16:30 Uhr, führen Daniel Glaus (Grosse Glocke) und Matthias Walpen (Cello) im Münster «Passacailles fugitives» auf (uraufgeführt 2011). Das Konzert dauert 15 Minuten.
Es wird also die Grosse Glocke des Münsters läuten. Die Idee des Konzerts entstand mit Bezug auf den orthodoxen Priester Georgy Roy. Dieser läutet in der Kathedrale von Grodno die Glocken, wenn die Sicherheitsleute in Belarus Demonstranten schlagen, nach dem Prinzip Glocken-Schläge gegen Schläge – und als Mahnung, von Gewalt abzulassen.
Zudem
In der Buchhandlung zum Zytglogge zu betrachten ist bis auf Weiteres das Schaufenster mit Literatur aus Belarus (Hotelgasse 1). Man kann die Bücher auch kaufen und natürlich lesen; der Erlös geht an Kulturprojekte in Minsk.
In der Bäckerei Bread à Porter kann «Zoyas Brot» (aus Sauerteig und Kümmel) gekauft werden (Münstergasse 74).