Hier wird Bildung neu gedacht

von Janine Schneider 13. Dezember 2024

Schule Bildung Imfluss bietet Kindern und Jugendlichen, die im regulären Schulsystem keinen Anschluss finden, einen geschützten Lernraum. Ein Besuch bei der besonderen Volksschule in Zollikofen, die gerade mitten im zweiten Schuljahr steckt.

Im Schloss Reichenbach in Zollikofen wird fleissig gearbeitet. Auf einem Blech kühlen frischgebackene Schokoladenguetzli aus, einige Kinder malen Schilder für das kommende Winterfest und zwei Jugendliche sind mit einem Lehrer losgezogen, um einen Tannenbaum zu holen. Andere Schüler*innen wiederum lösen Deutsch- oder Matheaufgaben. «Raten funktioniert für mich am besten», behauptet einer der älteren Jungs und grinst. «Dann lernst du aber nichts», gibt sein Betreuer zurück, «Versuch’s nochmal richtig.»

Mit den gemütlichen Sofas, den hohen, hellen Räumen und Fenstern, der heimeligen Weihnachtsmusik im Hintergrund, fühlt sich Bildung Imfluss nur bedingt wie eine Schule an. Sie ist denn auch keine im klassischen Sinn: Es gibt keine separierten Schulzimmer, keine altersgetrennten Schulklassen, kaum Lehrpersonen, die nicht auch noch einen Hintergrund in Ergotherapie, Informatik, Theaterpädagogik oder Boxen mitbringen würden.

Wir wollten einen familiären, geschützten Raum schaffen

20 Kinder und Jugendliche zwischen 9 und 18 Jahren lernen hier, betreut von 16 Lehrpersonen in Teilzeitpensen. Im Sommer 2023 eröffnet, ist Bildung Imfluss eine besondere Volksschule, die Schüler*innen aufnimmt, welche im regulären Schulalltag keinen Anschluss mehr finden – sei es, weil sie beispielsweise auf dem neurodiversen Spektrum sind, psychische Instabilität, Absentismus oder sonstige Verhaltensauffälligkeiten mitbringen.

In den grossen Räumen des Schlosses bieten sich viele verschiedene Lern- und Arbeitsorte. Die Kinder werden dabei eng von Lehrpersonen begleitet. (Foto: David Fürst)

Gegründet wurde die Schule von Tabea Haas und Jonas Abplanalp. Die beiden haben zuvor zusammen in der Schulleitung der Stiftung Lerchenbühl in Burgdorf gearbeitet. Sie hatten schon länger den Wunsch, ein eigenes Projekt aufzubauen. «Wir wollten einen familiären, geschützten Raum schaffen, an dem Kinder und Jugendliche sich entfalten und an ihren Herausforderungen wachsen können», erklärt Haas die Idee hinter Bildung Imfluss.

Wir fanden hier Spielraum, um Bildung neu zu denken

In der Stadt Bern und den Agglomerationsgemeinden gibt es 21 besondere Volksschulen – 31, wenn man diejenigen mit Internat oder Wohnheimstrukturen auch miteinbezieht. Nicht alle davon sind öffentlich, viele werden privat geführt. Das war für Co-Schulleiter Abplanalp aber keine Option: «Uns war es sehr wichtig, mit unserer Schule das Zweiklassensystem von privaten und öffentlichen Schulen nicht weiter zu stärken.» Dass die Direktion für Bildung und Kultur (BKD) so schnell ihre Unterstützung für Bildung Imfluss aussprach, hing wohl mit ihrer langjährigen guten Zusammenarbeit mit den beiden Schulleitenden zusammen – und mit dem riesigen Bedarf an Plätzen an besonderen Volksschulen, der zurzeit herrscht.

Ein steiler Anfang

Das Schloss Reichenbach liegt an einer Aareschlaufe im Süden Zollikofens, dort wo die Fähre den Fluss zur Engehalbinsel hin überquert. Schöner könnte eine Schule kaum gelegen sein. Im Sommer sonnen sich die Zollikofer und Bremgartnerinnen auf den Kiesbänken und den kleinen Inseln im Flussbett, jetzt im Winter fällt weicher Schnee auf die Gärten und Wiesen vor dem Schloss, die Schafe, die normalerweise hier weiden, kuscheln sich im Stall eng zusammen.

Zur Schule gehören die Räume im Parterre des Schlosses, rechts das Malzsilo der ehemaligen Brauerei.  (Foto: David Fürst)

In den Räumen, die Bildung Imfluss im Parterre des Schlosses übernehmen konnte, befand sich früher eine Bierbrauerei, zuletzt eine Schlosserwerkstatt. Unkonventionelle Räumlichkeiten, die inspirierten. «Wir fanden hier Spielraum, um Bildung neu zu denken», erklärt Haas. Im Februar 2023 erhielten Haas und Abplanalp die Bewilligung für die Gründung, im August eröffneten sie die Schule. Dazwischen mussten die Räume im Schloss Reichenbach renoviert und ausgestattet werden, ein Team zusammengestellt, Konzepte und Strukturen durchgedacht und Gespräche mit Eltern und Schüler*innen geführt werden. «Wir hatten wenig Vorlaufzeit», so die Co-Schulleiterin. Ein steiler Start.

Der Einstieg ins Schuljahr sei dann ebenfalls hart gewesen. Kinder und Jugendliche, die bisher sonst noch nirgends einen Platz gefunden hatten und deshalb ihnen zugewiesen wurden, ein neuer Ort, neues Team, neue Strukturen. «Es hat ziemlich ‹gräblet› und wir hatten viele Krisen», berichtet Abplanalp ganz ehrlich über das erste halbe Jahr.

Man sitzt nicht alleine im Klassenzimmer, sondern kann in Krisensituation auch übergeben und einander unterstützen

Im Winter wurden ihnen dann zusätzliche Stellenprozente zugesprochen. Das Team, die sorgfältige Arbeit und die Zeit haben das ihrige beigetragen. «Es hat sich sehr viel verändert seit dem Anfang», erzählt ein Mädchen, das bei Bildung Imfluss sein neuntes Schuljahr absolviert. «Wir sind als Gruppe wirklich zusammengewachsen.»

Sei die Gruppendynamik Anfang des ersten Jahres sehr schwierig gewesen, hätten sich die Kinder und Jugendlichen nun gegenseitig akzeptieren und schätzen gelernt, erzählt auch die Lehrerin Cécile Wyss während der Znünipause. Die gelernte Sozialpädagogin schaut aus dem Fenster. Draussen tobt eine wilde Schneeballschlacht, Co-Schulleiter Abplanalp mittendrin. Die Kinder wirken glücklich. «Viele wollen die Schule nun hier abschliessen», erklärt Abplanalp später, als er sich den Schnee von der Schulter geklopft hat – gerade die älteren Jugendlichen würden Bildung Imfluss mit seinen speziellen Strukturen als Chance betrachten.

An manchen Tagen kommt ein Hund auf Besuch. Die Kinder lieben ihn und die Begeisterung beruht durchaus auf Gegenseitigkeit. (Foto: David Fürst)

«Krisen sind ein Kompliment»

«Am Baum hat es viele…» Der Junge, der nach der Pause das ABC-Spiel anleitet, sitzt auf der Heizung und schaut in die Runde. «Blätter!», rufen einige Kinder, «Birnen», sagt eine Lehrerin. «Ich kriege zwei Punkte», behauptet ein Junge. «Nein, andere haben auch noch Blätter geschrieben», korrigiert ein Lehrer, der ebenfalls mit am Tisch sitzt.

Deutsch ist heute angesagt, nach dem ABC-Spiel folgt eine Geschichte zum Zuhören. Es ist unruhig im Raum, einer der Schüler flucht, rennt weg, dreht Runde um Runde durch die Schulzimmer, zwei Lehrer versuchen ihn zu überzeugen, mit ihnen stattdessen zusammen Sterne auszuschneiden. Erst nach einer Weile kann er sich wieder auf die Gruppe einlassen.

«Das ist das Gute an unserer Struktur», findet Abplanalp, «Man sitzt nicht alleine im Klassenzimmer, sondern kann in Krisensituation auch übergeben und einander unterstützen.» Der Unterricht kann weiterlaufen, auch wenn ein Kind gerade viel Betreuung braucht. «Und eigentlich kann man Krisen ja auch als Kompliment betrachten. Schule wird immer mehr zu einem Ort, an dem man sich selbst sein kann und sich nicht zusammennehmen muss, bis der Dampfkochtopf explodiert.»

Lehrer Thomas Anderegg ist ausgebildeter Sozialarbeiter. Der Co-Schulleitung war es wichtig, dass die angestellten Lehrpersonen einen sozialpädagogischen Hintergrund mitbringen. (Foto: David Fürst)
Wenn möglich, sollen die Schüler*innen von Bildung Imfluss später wieder zurück in die Regelschule gehen können. Vielen gefällt es aber hier. (Foto: David Fürst)

Schule soll auch thematisch näher an den Lebens- und Arbeitsalltag rücken. «Wir haben einige Kinder, die ihre Interessen und Begabungen anfangs überhaupt nicht richtig kannten», so Abplanalp, «Da ging es zuerst einmal darum, herauszufinden, was sie gerne machen. Ob sie zum Beispiel auch gerne Zeit draussen verbringen.» Von Plakatgestaltung zu indigenen Völkern über das Schreiben eigener Geschichten bis hin zu Gartenarbeit, Kochen oder dem Umbau der Werkstatt sind die Unterrichtsinhalte deshalb immer möglichst praxisnah ausgelegt – und die Kinder sollen damit auch auf den zukünftigen Alltag im ersten oder zweiten Arbeitsmarkt vorbereitet werden.

Wir verstehen uns als ein Projekt, das sich immer weiterentwickeln soll

Ein weiteres wichtiges Arbeitsfeld für die junge Schule ist die Arbeit mit den Eltern. Viele Eltern seien am Anfang eher skeptisch gegenüber der Schule eingestellt gewesen, erzählt Abplanalp – sie waren schliesslich einfach zugeteilt worden und die Schule befand sich gerade erst im Aufbau. «Manche trauten sich kaum das Telefon abzunehmen, wenn man sie anrief», erinnert sich der Co-Schulleiter. Nach einer teilweise negativ geprägten Schullaufbahn hätten sie oft nur schlechte Nachrichten erwartet. «Wir versuchen deshalb, auch das Selbstvertrauen der Eltern zu stärken und ihnen die Fortschritte ihres Kindes aufzuzeigen.»

Lernen solle hier wieder sinnhaft werden, erklärt Co-Schulleiterin Tabea Haas. Deshalb bleibt der Unterricht immer möglichst spielerisch und praxisnah. (Foto: David Fürst)

 

Immerwährende Weiterentwicklung

Die Sorgfalt und intensive Arbeit des Schulteams haben sich ausgezahlt. Eineinhalb Jahre nach Beginn ist im Schloss Reichenbach eine neue Schule entstanden. Eine familiäre Schule, eine Schule, an dem die Kinder und Jugendlichen Schritt für Schritt wieder Vertrauen in sich selbst und ihr Umfeld fassen können. Aber noch ist Bildung Imfluss nicht dort, wo es sein möchte. «Wir verstehen uns als ein Projekt, das sich immer weiterentwickeln soll», sagt Haas. Die Arbeit in der Schule im Reichenbacher Schloss ist deshalb weiterhin – wie es der Name verrät – im Fluss. Als nächstes sollen zum Beispiel neue Räume renoviert werden, ein Bewegungsraum und ein zusätzlicher Arbeitsraum sollen hinzukommen. Ein richtiger Pausenplatz wäre auch toll. Für mehr Schneeballschlachten jetzt im Winter.

Kurze Pause vom Lernen, bevor es weitergeht. (Foto: David Fürst)