Als „obersten Protestanten Europas” bezeichnet der „Bund” den Berner Pfarrer Gottfried Locher, dem sie am vergangenen Montag eine ganze Seite zur Verfügung stellt, um seinen Ruf nach einem Verbot der Gesichtsverschleierung zu begründen. Damit soll der Stellungnahme wohl eine Art offiziöser Charakter zukommen. Hat sich also die evangelische Kirche auf die Seite der Burkaverbieter geschlagen?
Herr Locher meint, da man Nacktheit in der Öffentlichkeit verbiete, müssen man auch die Verhüllung des Gesichts verbieten. Alles dazwischen sei erlaubt, aber diese beiden Extreme gehörten verboten. Das habe nichts mit Kleidervorschriften zu tun, sondern sei eine Frage der Identität. Ehrlich gesagt: Auch nach mehrmaligem Lesen bleibt mir rätselhaft, was das alles miteinander zu tun haben sollte und worin hier eine Logik liegen könnte. Aber wenn es um Burkas geht, fragt offenbar sowieso niemand nach Logik.
Denn natürlich geht es um eine Kleidervorschrift. Und da hat ja die evangelische Kirche eine lange Tradition: Die christlichen Missionare haben afrikanische und amerikanische Ureinwohnerinnen jahrhundertelang in ungeeignete europäische Kleider gezwungen, die lutheranische Kirche schrieb immer mal wieder vor, wie lange die Röcke der Mädchen und Frauen zu sein hatten, und viele evangelische Freikirchen verboten den Frauen das Tragen von Hosen bis weit ins 20. Jahrhundert hinein. Die Schweizer Bürgerfrauen und Bäuerinnen wurden ebenso fleissig unter unpraktische Hauben gezwungen, wie wir sie heute noch am Zürcher Sechseläuten und in Trachtenumzügen sehen, und den Brautschleier bei Hochzeiten kennen wir heute noch. Zur Begründung solcher Kleidervorschriften diente in der Regel ein Apostelbrief von Paulus oder sonst ein Bibelzitat.
Das haben wir zum Glück weitgehend hinter uns. Wie auch den Kampf gegen den Minirock, gegen die Oben-ohne-Welle beim Baden, gegen lange Haare bei Männern usw.
Wer Kleidervorschriften erlässt, hat immer eine politische Absicht. Als Kemal Atatürk das Tragen des Schleiers verbot, war das ein politisches Instrument, um die osmanische Türkei zu einem europäischen Land mit europäischer Zivilisation zu machen. Sein grosser Bewunderer, der Schah Reza I. von Persien, versuchte im Iran genau das gleiche und verbot nicht nur den Frauen das Tragen von Schleiern, sondern auch den Männern das Tragen des traditionellen Spitzhutes. Als die Mullahs im Iran den Kopftuchzwang einführten, ging es darum, diese Entwicklung wieder rückgängig zu machen und die Spuren der Schahzeit mitsamt den verbliebenen Anhängerinnen und Anhängern auszurotten.
Übrigens: Die Ndrangheta verbietet in den von ihr beherrschten Quartieren Neapels das Tragen von Motorradhelmen. Sie will verhindern, dass Polizisten unter dem Schutz von Helmen unerkannt herumfahren können. Auch das ist eine Kleidervorschrift. Und auch diese Kleidervorschrift ist ein Herrschaftsinstrument.
Und was die Frage der Identität anbelangt: Skifahrerinnen und Skifahrer auf Höhentouren sind unter ihren Wattejacken und Sturmbrillen nicht zu erkennen. Verlieren sie deshalb ihre Identität? Jeder Motorradhelm macht Fahrerin und Fahrer für Dritte unkenntlich. Haben sie deshalb keine Identität mehr? Und an der Fasnacht sind Gesichtsmasken gang und gäbe. Wo die Funktionalität der Gesichtsverhüllung einsichtig ist, stellt sie offenbar kein Problem dar. Der Ruf nach Verboten der Burka oder des Niqab zeigt bestenfalls, dass die Funktionalität einer religiös begründeten Gesichtsverhüllung im Alltag nicht akzeptiert wird.
Die Patriarchen von der SVP wollen ein Burkaverbot jetzt sogar in die Verfassung schreiben. Angeblich soll dies ein Beitrag zur Befreiung der Frau sein, weil Frauen einen Gesichtsschleier ja nur auf männlichen Druck hin tragen. Wenn dies richtig wäre, so müssten wohl auch die Männer eine Busse erhalten, wenn ihre Frauen gegen das Verbot verstossen. Das verlangen aber weder die SVP noch Herr Locher. Es wird halt rasch einmal ziemlich unlogisch, wenn Schweizer Patriarchen aus Kleidervorschriften Gesetze machen wollen.
Was mich anbelangt: Ich finde, dass jeder und jede sich von nackt bis vollverschleiert so kleiden darf, wie er oder sie das gut findet. Die andern dürfen das gut oder schlecht finden, und sie dürfen es auch sagen. Wer keine oder extravagante Kleider trägt, muss auch mit der Kritik derer leben können, die das nicht so toll finden. So wie ich angemacht wurde, als ich vor 50 Jahren mit langen Haaren, die mindestens mein halbes Gesicht bedeckten, durch St. Gallen spaziert bin. So wie sich Homies dumme Sprüche anhören müssen, wenn sie mit herunterhängenden Hosen und Dächlikappe in der Schule oder am Arbeitsplatz erscheinen. Das auszuhalten, könnte dann allenfalls eine Frage der Identität sein.
Dass in der Schule, am Arbeitsplatz, bei behördlichen Verrichtungen das Gesicht gezeigt werden muss, ist klar. Wo diese juristischen Grenzen liegen, hat das Bundesgericht mit seinem Entscheid zum Rheintaler Kopftuchverbot ausführlich und überzeugend dargelegt. Dem ist nichts hinzuzufügen.
Im Übrigen gilt: Die Mode kommt, und die Mode geht. Mit dem Ruf nach Gesetzen macht man sich da nur lächerlich, wie dies die französische Obrigkeit mit ihrem Burkiniverbot gerade wieder eindrücklich demonstriert.