«Heroin kann mir immer noch gefährlich werden»

von Anne-Careen Stoltze 12. Juni 2013

Seine Drogenkarriere ist alles andere als typisch. Mit 35 fällt Simon mitten aus dem Leben, erlebt den totalen Absturz und kämpft sich zurück. Ohne Terra Vecchia hätte er es nicht geschafft, sagt er. Die Stiftung hilft seit 40 Jahren Menschen zurück in ein drogenfreies Leben.

Bis er 35 Jahre alt war, hat er ein normales Leben geführt, sagt Simon*. Er arbeitet und lebt in einer glücklichen Beziehung. Klar, hat er als Teenager mal Cannabis geraucht und sowieso Alkohol getrunken. Das gehört ja dazu. Aber «richtige» Drogen genommen hat er nie.
Schon als Kind ist Simon «angefressen» von Musik und will am liebsten Musiker werden. Doch er macht «erstmal das KV», um sich das nötige Geld für die musikalische Ausbildung zu verdienen. Mit Mitte zwanzig findet er seinen Traumjob als Konzertveranstalter beim Festival Rock oz Arènes.

Über Nacht heroinsüchtig

Doch dann musste er seinen Job Knall auf Fall kündigen. «Wegen Mobbing», sagt er knapp. Er habe es dort einfach nicht mehr ausgehalten. Mehr will Simon dazu nicht sagen. Zeitgleich eröffnet ihm seine Freundin, dass sie sein Kind erwartet. Für viele Männer mag das ein Grund zur Freude sein – nicht für Simon. «Die Schwangerschaft hat mich völlig aus dem Gleichgewicht gebracht und in ein tiefes Loch gerissen.» Es geht ihm sehr schlecht. Er hat keine Arbeit und keine Kraft für einen Neuanfang. «Mir war schon damals klar, dass ich eigentlich professionelle Hilfe brauchte. Nur ich war zu stolz dafür.»

«In Bern weiss man ja, wohin man gehen muss, um Heroin zu bekommen. Und das habe ich gemacht.»

Simon

Mit der Geburt des Kindes würde alles besser werden, hofft er. Das Baby würde die Freude wieder in sein Leben bringen. Das Kind würde machen, dass es ihm besser geht. Aber so kommt es nicht. Als sein Sohn vor fünf Jahren auf die Welt kommt, wird Simon von einem Tag auf den anderen abhängig. Von Heroin. Ohne grosse Umwege und zielgerichtet sucht er sich die härteste aller Drogen aus. «In Bern weiss man ja, wohin man gehen muss, um Heroin zu bekommen. Und das habe ich gemacht», fasst Simon knapp zusammen. Täglich konsumiert er nun Heroin. «Ich sniffte, gespritzt habe ich nie», betont Simon und es klingt, als wäre das Spritzen noch eine Nummer härter. Kontakt zu anderen Süchtigen sucht er nicht, besorgt sich nur den Stoff, dann zieht es ihn wieder ins Alleinsein. Er sieht sich selbst nicht als typischen Drögeler. Aber auch ihn plagen bald Geldsorgen und er macht Schulden.

Sein neugeborener Sohn ist gesund und gedeiht, doch davon kriegt Simon nichts mit. «Ein idyllisches Familienleben habe ich nicht erlebt, das war nicht möglich», bilanziert er. Seelisch geht es ihm immer schlechter. Trotzdem kann er seine Sucht fast ein Jahr lang vor seiner Lebenspartnerin verheimlichen. «Sie wollte es wohl nicht merken und nicht wahrhaben», sucht Simon nach einer Erklärung. Als seine Sucht offen liegt, geht Simon zum ersten Mal in ein ambulantes Programm – der erste Entzug einer ganzen Reihe: «Ich war mehrfach in Kliniken, aber ich war immer nur so lange clean, bis ich wieder draussen war.» Mit dem Wechsel von Klinikaufenthalten, kurzen cleanen Phasen und den Rückfällen vergehen zwei Jahre.

Mit Benzos kommt der Tiefpunkt

Bald reicht Simon das Heroin nicht mehr aus und er konsumiert zusätzlich Narkotika. Benzodiazephine, kurz Benzos genannt, werden in der Medizin unter anderem gegen Angstzustände und Schlafstörungen eingesetzt. Zusammen mit Heroin eingenommen, können sie sehr gefährlich werden, weil wegen den Wechselwirkungen die Gefahr eines Atemstillstandes besteht. Für Simon gehören sie schnell zum Alltag und lassen ihn noch tiefer abstürzen: «Benzos sind sehr schlimm. Ich wusste, dass ich das allein nicht schaffen kann.» Die Sucht belastet seine Beziehung und die junge Familie so sehr, dass ihn seine Lebenspartnerin vor zwei Jahren verlässt. Kurz darauf verliert Simon auch seine Wohnung und ist «am absoluten Tiefpunkt angekommen».

«Ich war mehrfach in Kliniken, aber ich war immer nur so lange clean, bis ich wieder draussen war.»

Simon

Auch sein Versuch das Heroin mit Subutex zu ersetzen, scheitert. Aus eigener Kraft schafft er es, sich über Therapiemöglichkeiten zu informieren und tritt im Herbst 2011 in die Klinik Selhofen ein. Nach einem letzten Entzug beginnt er im Dezember 2011 bei der Stiftung Terra Vecchia in Brienzwiler-Corte ein Therapieprogramm. Dort findet er eine Zuflucht. «Endlich ging es mir besser», sagt Simon und die Erleichterung ist ihm anzumerken.

Geissenkäse als Therapie

Ein Jahr lang hat er im Berner Oberland gelernt, Geissen zu hüten und Käse herzustellen. Mit den Tieren hat er den Sommer auf der Alp Oltscheren verbracht – weit weg von Drogen und dem Alltag. Neben einer Tagesstruktur bekommt Simon Therapiegespräche – einzeln und in der Gruppe. «Mit anderen Patienten habe ich keine Freundschaften geschlossen, habe eher den Kontakt zu den Mitarbeitenden gesucht», erinnert er sich. Simon verbringt ein Jahr in der sicheren Welt der stationären Therapie in der Bergwelt. Er kommt innerlich zur Ruhe. In den Gesprächen geht es um die Ursachen seiner Sucht. «Ich bin dem Warum schon auf die Spur gegangen, aber eine abschliessende Antwort für meinen Absturz habe ich nicht gefunden.» Ihm sei aber klar geworden, dass die Zeit vor dem Heroin doch nicht so drogenfrei war, wie er glaubte: «Ich habe wohl mehr Alkohol getrunken, als mir bewusst war.»

«Ich habe keine abschliessende Antwort für meinen Absturz gefunden.»

Simon

Anfang Jahr beendete Simon das Programm in Brienzwiler und wechselte in die Nachbetreuung von Terra Vecchia. Seitdem wohnt er in einer betreuten Wohngemeinschaft in Ostermundigen, wo er den Weg zurück ins Arbeitsleben und in die Gesellschaft findet. Seine erste Arbeitsstelle hat er beim Eidgenössischen Turnfest in Biel gefunden. Damit ist er tagsüber schon mit einem Bein draussen, aber kann am Abend wieder unter die Fittiche von Terra Vecchia schlüpfen. Auch therapeutische Hilfe bekommt Simon. Alle zwei Wochen trifft er sich mit seiner Bezugsperson. «Das ist wie mit einem guten Kumpel», sagt Simon, «es fühlt sich gut an.» Sie reden über Simons Alltag und seine Beziehungen zur Familie. Sein Betreuer weist ihn aber auch darauf hin, wo es für Simon noch brenzlig werden könnte. Momentan ist das sein hektischer Arbeitsalltag. «Meine Tage dauern zurzeit schon mal 14 Stunden. Das hat auch positive Aspekte und ich brauche das», erklärt Simon, aber er weiss auch: «sowas geht nur für kurze Zeit.» Auf Dauer könne er Druck nur schwer aushalten. «Das könnte mir gefährlich werden», sagt er und meint Heroin.

Arbeit ist am wichtigsten

Seine Kollegen kennen seine Geschichte. «Sie haben mich gut aufgenommen und mir eine Chance gegeben», sagt Simon. Im Herbst endet sein Engagement beim Turnfest. Wie es danach weiter geht, weiss er noch nicht. Er hat sich um eine Stelle bei einem Ticketingunternehmen beworben. Parallel sucht er eine Wohnung. Damit nabelt sich Simon vom geschützten Rahmen ab, den Terra Vecchia bietet. Das ist der schwerste Schritt und es ist klar, ob es Simon weiterhin gut geht, hängt sehr davon ab, ob er eine neue Arbeit findet. Sie gibt Struktur und füllt die Leere. Arbeitslos zu sein, wäre eben auch so eine brenzlige Situation. «Heroin kann mir immer noch gefährlich werden», sagt Simon.

Trotzdem: es ist vieles anders geworden. Er ist sensibler und aufmerksamer geworden – gegenüber sich selber aber auch gegenüber anderen Menschen. «Ich merke schnell, wenn jemand psychisch labil ist oder am Limit läuft», sagt Simon. Er spricht die Leute dann gezielt an. So knüpft er neue Beziehungen. Mit seiner früheren Lebenspartnerin wird er nicht mehr zusammen kommen. Das ist abgeschlossen, sagt er. Aber zu seinem Sohn, dessen Geburt mit ein Auslöser seines Absturzes war, konnte er inzwischen ein «gutes Verhältnis» aufbauen.

*Name der Redaktion bekannt