Heisse Grenze im kühlen Norden

von Willi Egloff 23. Juli 2022

Sommerserie (6): 10 Jahre lang konnten die norwegischen und russischen Nachbarn beidseits des Jakobsflusses ohne Visum ins jeweils andere Land reisen. Als Folge des Ukrainekriegs gibt es jetzt statt des friedlichen Nebeneinanders wieder eine heisse Grenze.

Zum Zeitpunkt ihrer Gründung, 1949, hatte die NATO nur eine einzige gemeinsame Grenze mit der damaligen Sowjetunion: weit nördlich des Polarkreises zwischen den Kleinstädten Kirkenes und Petschenga, am Jakobsfluss, grenzten Norwegen und die Sowjetunion aneinander. Riesige Radarstationen, die bis heute über der norwegischen Vardö-Insel thronen und von dort aus die russische Kola-Halbinsel mit dem wichtigen Hafen Murmansk überwachen, erinnern täglich daran, dass hier geopolitischer Sprengstoff vergraben ist.

Die nicht sehr zahlreichen Bewohnerinnen und Bewohner der Region kümmerte das jahrzehntelang wenig. Sie lebten in bester Nachbarschaft miteinander und trieben regen Handel über die Landesgrenzen hinweg, auch mit dem ebenfalls benachbarten Finnland. Seit April 2012 war für die rund 50’000 Bewohnerinnen und Bewohner der Grenzregionen in Norwegen und Russland für den Grenzübertritt nicht einmal mehr ein Visum erforderlich: Sie konnten ein drei Jahre gültiges Wohnsitzzertifikat erwerben, das zum unbeschränkten Grenzübertritt berechtigte.

Ukrainekrieg als Wendepunkt

Das alles gilt seit Beginn des Kriegs in der Ukraine und als Folge der von den NATO-Staaten verhängten Sanktionen nicht mehr. Der kleine Grenzverkehr ist abgeschafft, die Grenzen sind wieder hermetisch abgeriegelt, wie sie es im letzten Jahrhundert waren. Die Nachbarn von gestern sind heute plötzlich Feinde geworden.

Wie einschneidend dies für die dortige Bevölkerung ist, erfahren wir in vielen zufälligen Gesprächen. Der finnische Busfahrer, der uns von Ivalo ins norwegische Kirkenes bringt, verrät uns, dass er eigentlich Lastwagenfahrer sei. Seit es keine Transporte zwischen Norwegen und Russland mehr gibt, hat seine Firma aber keine Aufträge mehr. Mit Bus- und Taxifahrten versucht er, sich notdürftig über Wasser zu halten. Sein selbst gebautes Ferienhaus kann er auch nicht mehr benutzen: Es steht auf russischem Boden.

 

Die Ladenbesitzerin im finnischen Näätämä, dem letzten Ort vor der norwegischen Grenze, erzählt uns, wie sehr sie auf norwegische und russische Kundinnen und Kunden angewiesen sei. In ihrem finnischen Einzugsgebiet leben gerade einmal 120 Personen. Von dieser Kundschaft kann sie nicht überleben. Wenn also die Russinnen und Russen noch länger wegblieben, müsse sie ihren Laden schliessen. Eine Einkaufsmöglichkeit gäbe es dann in der ganzen Region nicht mehr.

Es sind lauter kleine Einzelschicksale, von denen uns berichtet wird. Nichtigkeiten am Rande der grossen geopolitischen Verwerfungen. Nur für die Betroffenen geht es dabei um die nackte Existenz.

Kaum Hoffnung auf Besserung

Eine realistische Hoffnung, dass sich die Situation bald wieder bessern könnte, haben die Leute nicht. Mit dem geplanten Beitritt Finnlands zur NATO wird die gemeinsame Grenze zwischen NATO und Russland nochmals um rund 1300 Kilometer verlängert. Finnland hat bereits angekündigt, diese Grenze mit baulichen Schutzmassnahmen sichern zu wollen. Statt der Wiederbelebung des kleinen Grenzverkehrs ist also gerade die Errichtung eines neuen eisernen Vorhangs angesagt.

Auch die norwegische Regierung glaubt offensichtlich nicht mehr an eine Normalisierung der Situation: Auf den 1. Juli hat sie das Generalkonsulat in Murmansk geschlossen, welches für die Ausgabe der Grenz-Zertifikate zuständig war. Auch dort gab es ganz einfach keine Arbeit mehr.

Sogar das meteorologische Klima scheint sich der politisch aufgeheizten Stimmung anzupassen. Am 27. Juni zeigt das Thermometer in Kirkenes stolze 30° C an. So heiss ist es dort seit Beginn der Temperaturaufzeichnungen noch nie gewesen.

Eine neue Hexenverfolgung?

Szenenwechsel: Bei der norwegischen Kleinstadt Vardö stehen nicht nur die Abhöranlagen der NATO, sondern auch eine 2011 eingeweihte Gedenkstätte für die Opfer der Hexenverfolgung im 17. Jahrhundert. Der Schweizer Architekt Peter Zumthor hat das beeindruckende Gebäude aus Holz und Segeltuch konzipiert, die französisch-amerikanische Künstlerin Louise Bourgeois hat als eines ihrer letzten Werke einen Pavillon mit einer wunderbaren Installation hinzugefügt, welche einen brennenden Scheiterhaufen symbolisiert.

Mahnmal für die Opfer der Hexenverfolgung in Vardö. Im Vordergrund die Installation von Louise Bourgeois, dahinter der Gedenkpavillon von Peter Zumthor (Foto: Willi Egloff).

Die Anlage erinnert daran, welches Unheil ideologische Verblendung und die Verteufelung von Nachbarn anrichten. Nachweislich wurden mindestens 77 Frauen und 14 Männer (ausschliesslich Samen) allein im kleinen Vardö in weniger als hundert Jahren auf dem Scheiterhaufen verbrannt, weil sie von irgendwelchen Nachbarn der Hexerei beschuldigt worden waren. Wir sollten alle Politikerinnen und Politiker, die heute schon wieder Scheiterhaufen errichten wollen, nach Vardö zur Kur schicken.