Vor ein paar Tagen erzählte mir eine ehemalige Arbeitskollegin, dass sie ihre Geschwister in der 1400 km entfernten Heimat regelmässig besucht. «Mit dem Auto», wie sie stolz erklärte, weil sie nämlich ihre Verwandten in die Slowakei mit Geschenken überraschen wolle. Das mache sie seit Jahren so, erzählte sie voller Begeisterung. Ich musste meine Tränen zurückhalten. Meine Freundin ist einundsiebzig, sie kam vor einundvierzig Jahren als Gastarbeiterin in die Schweiz und ist hier heute bestens integriert. Dennoch zieht ihr Herz sie immer noch – immer wieder! – zurück in die Heimat.
Millionen Menschen weltweit haben Heimweh und Sehnsucht nach der Verwandtschaft. Auch ich. Im Frühling 1989 musste ich – um einer politischen Verhaftung zu entgehen – Hals über Kopf fliehen. Seit da lebe ich von meiner geliebten Familie getrennt.
Heute bin ich erstaunt, wie ich den Herzschmerz so lange aushalten konnte.
Der brutale Krieg im Kosovo wurde am 12. Juni 1999 beendet. Drei Wochen später, nahm ich mit grossen Glücksgefühlen, aber auch mit viel Wehmut den Weg zurück in meine Heimat in Angriff. Obwohl ich ahnte, wie ich mein Dorf antreffen würde, erlitt ich einen Schock, als ich dort war. Nichts war so, wie ich es zurückgelassen hatte. In meinem Buch «Bleibenden Spuren» schrieb ich: «Emotionen der Furcht, der Traurigkeit, des Mitleids, der Hilfslosigkeit und der Freude waren allgegenwärtig. Die Fahrt kam mir unendlich lang vor. Und die Spuren des Krieges waren nicht zu übersehen. Leere Dörfer und Brandruinen säumten die Strasse. Wo ich hinschaute, nur Bilder der Zerstörung. Allein dieser Anblick liess in mir eine Geschichte des Grauens aufheben; eine Geschichte, die noch nicht einmal einen Monat zurücklag.»
Heute bin ich erstaunt, wie ich diesen unerträglichen Herzschmerz so lange aushalten konnte.
In den Medien liest man, dass viele Ukrainer*innen sich für eine Rückkehr in ihre Heimat melden. Trotz der unsicheren Lage, sind einige Hundert bereits gegangen. Ich verstehe sie, denn das Leben weit weg von zuhause und ohne Familie ist schmerzhaft und bitter.
Dank der Hilfe der Diaspora hat Kosovo Jahrelang überlebt. Die meisten Kosovoalbaner*innen in der Schweiz arbeiten schwer und haben kleine Löhne. Damit bringen sie hier ihre Familie durch und unterstützen zudem ihre Verwandten in der Heimat. Wie ist das möglich? Sie schaffen es, weil sie sehr sparsam leben. Albaner*innen sind als sehr hilfsbereit und familiär bekannt. Dahinter steckt aber auch eine grosse Sehnsucht. Die finanzielle Unterstützung ihrer Verwandten zuhause gibt ihnen nicht nur ein Gefühl der Erleichterung, sondern sie stillt auch die Sehnsucht nach den Verwandten in der fernen Heimat.
Besonders für die junge Generation ist die Lage unerträglich.
Nach einer Statistik der Zentralbank in Kosovo, fliesst jährlich über eine Milliarde Euro aus der Diaspora zurück. Heute mangelt es im Kosovo nicht mehr an Arbeit, wie vor dem Krieg, aber die Arbeitsmoral ist nicht gross. Schuld daran sind wohl verschiedene Faktoren: Die Arbeitnehmenden werden oft ausgenützt, schlecht behandelt und minimal bezahlt. Arbeitsschutz und Arbeitsrechte sind unbekannt oder werden nicht befolgt. Versichert ist niemand, und wenn ein Arbeitsunfall geschieht, müssen Arbeitsnehmende selber für die Heilungskosten aufkommen. Besonders für die junge Generation ist diese Lage unerträglich. Obwohl viele studiert haben, richten sie ihren Blick gegen Westen. Im eigenen Land gibt es schlicht zu wenig Zukunftsperspektiven. Immerhin: einige haben in den verschiedenen europäischen Ländern Arbeit gefunden, in medizinischen Berufen oder auf Baustellen. Geld aus der Diaspora wird also weiterfliessen, aber auch das Heimweh und die Sehnsucht bleiben bestehen.