Heimkehren in eine fremde Stadt

von Bernhard Giger 28. April 2022

Zu ihrem 60. Geburtstag besuchte die in Bern und Katalonien lebende Künstlerin Adela Picón Melilla, die Stadt, in der sie geboren wurde. Die dort entstandene fotografische Recherche «Die verlorene Spur» erscheint nun als Buch, begleitet von einer Ausstellung in der Galerie Béatrice Brunner in Bern.

Bilder eines Wasserfalls am Schwarzsee im Wechsel der Jahreszeiten. Die Tonspur kommt aus einer anderen Welt. Eine minimalistische musikalische Improvisation mit Trompete vermengt sich mit Klängen einer Stadt, in die der Lärm eines Luftangriffs einbricht, der dumpfe Knall aufschlagender Bomben, Sirenen.

Die Videoinstallation «Black Lake, Starry Night» entstand 2012 für eine Ausstellung zum zehnjährigen Bestehen des Frauenkunstpreises im Kunstmuseum Thun. Nicht weit vom Ausstellungsort entfernt, sagt Adela Picón, seien Waffen und Munition hergestellt worden, darauf habe sie sich mit ihrer Arbeit bezogen.

Die Gleichzeitigkeit von Schönheit und Zerstörung, von Poesie und Schmerz ist bezeichnend für das ganze Schaffen der Künstlerin.

Das Stück der Tonspur, «Starry Night», komponierte der libanesische Musiker Mazen Kerbaj. Den israelischen Luftangriff auf Beirut hat er im Juli 2006 von seinem Balkon aus aufgenommen. Zuerst wollte er seine Improvisation nicht zur Verfügung stellen, zu fremd war ihm deren Kombination mit einem Naturschauspiel. Adela Picón musste ihm sehr genau erklären, weshalb sie gerade diesen Sound unter ihre Bilder legen will.

Familienbilder und Leere

Diese Gleichzeitigkeit von Schönheit und Zerstörung, von Poesie und Schmerz, die «Black Lake, Starry Night» schlicht und eindringlich transportiert, ist bezeichnend für das ganze Schaffen der Künstlerin. In besonderem Mass jedoch für ihre jüngste Arbeit: das in der Bieler edition clandestin erschienene Buch «Die verlorene Spur». Es ist eine durch ein Stipendium des Kantons Bern ermöglichte Recherche in der Hafenstadt Melilla, einer spanischen, an Marokko angrenzenden Enklave an der nordafrikanischen Mittelmeerküste. Melilla ist Adela Picóns Geburtsstadt, zwei Jahre lebte sie dort, dann zog ihre Familie nach Barcelona. Jetzt, mit 60 Jahren, ist sie zurückgekehrt, drei Monate im Herbst 2018 und noch einmal kürzer im Oktober 2021.

Im Reisegepäck mit dabei hatte sie schwarz-weisse Fotografien aus dem Familienalbum. Sie wollte die Orte aufsuchen, die darauf zu sehen sind, und vielleicht Nachbarn finden, die ihr darüber etwas erzählen können. Ihre Eltern führten eine Bar, «Madrid» hat sie geheissen, und die Rückkehrerin fand tatsächlich einen alten Mann, auch er ein Barbetreiber, der sich an das Lokal der Eltern erinnern konnte. Im Buch gibt es ein Bild aus der Bar, die Eltern zwischen ein paar Gästen, in den Regalen reihen sich die Flaschen, auf dem Büfett stehen die angerichteten Speiseplatten; ein Ort zum Verweilen. Jetzt ist er verlassen, «vom Meersalz angefressen», wie Adela Picón schreibt.

Foto: Adela Picón Melilla

 

Eigentlich wollte sie in Melilla Werbeplakate fotografieren. Aber in Melilla hängen keine Werbeplakate. Wozu auch? Die Stadt hat ihren einstigen Charme verloren, die eleganten Jugendstilbauten – ein Kino von 1928, das Gran Teatro Cine Perelló – wirken heute fast deplatziert. Der Stadt fehlt die Grandezza, für die sie einmal standen. Stattdessen: Leere Häuserzeilen mit heruntergelassenen Rollläden ehemaliger Geschäfte. Niemand wird sie je wieder hochziehen.

Faschistisches Erbe

Auf der Landkarte ist Melilla – keine 100’000 Einwohner*innen – ein eher unscheinbarer Ort. Die Geschichte sagt anderes. Auch wenn die Rollen klar verteilt waren zwischen der Gesellschaft der spanischen Kolonialmacht und der marokkanischen Bevölkerung, gab es im frühen 20. Jahrhundert Verbindungen und Bande zwischen den beiden Kulturen. Dann aber, am 17. Juli 1936, begann in Melilla unter der Führung von General Franco der faschistische Putsch gegen die spanische republikanische Regierung, die erst wenige Monate zuvor gewählt worden war.

Dem faschistischen Erbe huldigt die Stadt bis in die Gegenwart, zahlreiche Strassen und Gassen tragen die Namen hoher Offiziere dieser Zeit. Ein Denkmal mit einer Franco-Statue wurde erst kürzlich entfernt, kaum aus politischer Einsicht, sondern weil sich die Touristen, von denen Mellila gern mehr hätte, daran stossen könnten. Aber weshalb sollten Touristen dorthin reisen? Die Stadt ist zur Festung geworden, hermetisch abgeriegelt gegen das marokkanische Hinterland, im eisernen Griff von Polizei und Militär.

Ein Denkmal mit einer Franco-Statue wurde erst kürzlich entfernt, kaum aus politischer Einsicht, sondern weil sich die Touristen daran stossen könnten.

Für die afrikanischen Jugendlichen, die hier stranden, und die herumstreunenden Kinder, die «Menas» genannt werden – eine amtssprachliche Verkürzung für unbegleitete minderjährige Migranten –, für sie ist Melilla der Vorhof Europas. Oder die letzte Station ihrer Flucht. Sie haben keine Rechte und keine Papiere, leben versteckt am Stadtrand.

Der Junge am Strand

«Wo bin ich hier gelandet?», hat sich Adela Picón gefragt, und sich aufgemacht in diese auch ihr fremde Stadt. Ihre Erkundungen hat sie fotografisch dokumentiert. Daraus ist «Die verlorene Spur» entstanden, ein dichter, mit kurzen, kommentierenden Texten ergänzter Bildband. Sie sei keine Fotografin, sagt Adela Picón, sie sei eine Malerin und mache Videos. Das Fotografieren liegt ihr nicht, sie hat Hemmungen, die Kamera hochzuhalten – sie arbeitete mit einer Kleinbildkamera, nicht mit dem Handy. Doch genau dies erweist sich hier als Vorteil: Den Bildern fehlt jeder Anspruch auf ästhetische Überhöhung. Es sind, im besten Sinn, schnell aufgenommene Bilder, einfach, um das Gesehene möglichst unverfälscht zu dokumentieren.

Was sie meint, wenn sie sagt, «ich bin keine Fotografin», belegt ein Beispiel im Buch. Adela Picón schreibt von einem Jungen, der verloren am Strand herumirrt, mit einer Plastiktüte in der Hand. Sie ruft ihm zu, bietet ihm Hilfe an, er reagiert nicht und verschwindet unter einer Brücke, wo er «weiter Klebstoff inhalieren und wegdämmern wird». Fotografiert hat sie ihn nicht, «er war noch so jung», sagt sie fast entschuldigend. Die meisten Fotografinnen und Fotografen hätten hier vermutlich abgedrückt.

Foto: Adela Picón Melilla

 

Ausdruck dieses pragmatischen Umgangs mit dem Medium Fotografie ist auch, dass einige Bilder ihr pensionierter Mann Mauro Abbühl gemacht hat, in angespannten Situationen etwa oder wenn sie im Gespräch mit den Fotografierten war. Abbühl war in Bern Co-Direktor von artlink, einer vom DEZA unterstützten Fachstelle für Kunst und Kultur aus Afrika, Asien, Lateinamerika und Osteuropa, und somit vertraut mit interkultureller Annäherung und Verständigung.

Mit geballter Faust

Adela Picón hat sich vertieft in die bedrückende Realität dieser vergessenen Stadt am Schnittpunkt zwischen Süden und Norden, sie hat sich in ihr festgebissen, als könnte sie nicht glauben, was sie zu sehen bekommt. Sie ging an die Grenze, wo die Stadt auch noch ihre letzten romantischen Reize verliert, und fotografierte die durchs Niemandsland gezogenen Zäune und Schutzwälle. Was haben wir uns empört über Präsident Trumps Vorhaben, an der Grenze zu Mexiko einen Zaun zu bauen, und wie entsetzt zeigten wir uns über den martialischen Umgang der US-Grenzpolizei mit Kindern. In Melilla, an Europas Aussengrenze und damit auch an unserer, ist das Alltag.

Den Menschen aus dem marokkanischen Rifgebirge ist es erlaubt, ohne Visum nach Melilla zu kommen, die Stadt gehört nicht zum Schengen-Raum. Auch diesen Grenzübergang fotografierte Adela Picón, eine eiserne Drehtür in einer engen, als Käfig konstruierten Schleuse, die denen, die dort ankommen, von Anfang an unmissverständlich zu verstehen gibt: ihr seid hier nicht willkommen. Über ansässige NGOs – den einzigen, die sich um deren Rechte kümmern – kam sie in Kontakt mit Strassenkindern und jungen Männern aus Nordafrika. Deren einzige Hoffnung ist es, als blinder Passagier auf ein Schiff zu kommen, das sie aufs spanische Festland bringt. Nur wenige schaffen es.

Foto: Adela Picón Melilla
Foto: Adela Picón Melilla

 

Schliesslich bestieg die Künstlerin, am 20. November, ihrem Geburtstag und seit 1975 Francos Todestag, das Denkmal, das den Diktator beschönigend und, wie sie nicht unerwähnt lässt, viel hübscher zeigt, als er gewesen war. Sie zog sich, im Gedenken an die Folter während der Diktatur, einen weissen Plastiksack über den Kopf und hob die geballte Faust zum Protest. So verharrte sie einige Minuten neben der Statue, dann musste sie verschwinden, weil die Polizei im Anmarsch war: Eine nicht ungefährliche Performance, und eine zutiefst persönliche: Die Franco-Zeit ist Teil ihrer Biografie.

Eine gewisse Trostlosigkeit

Adela Picón studierte an den Kunst-Hochschulen in Barcelona und Bilbao. Danach begann die lange Suche nach der für sie richtigen Ausdrucksform. Von ihren durch Antoni Tàpies beeinflussten malerischen Anfängen habe sie sich gelöst, als sie in den frühen Neunzigerjahren in die Schweiz kam, schrieb Konrad Tobler, und sich einer geometrisch-ornamental geprägten Malerei zugewandt. Diese hat sie dann zugunsten des Videos aufgegeben, «weil sie in der Malerei als solcher kein Medium mehr sah, um ihre Reflexionen Form werden zu lassen.» (Anarchischer Impetus, 2013). Ihre Videoarbeiten und auch die Malerei, zu der sie später noch einmal zurückfand, zeichnet fast durchwegs ein starker, stets auch persönlich gefärbter Bezug zu Politik und Geschichte aus.

Nicht politische Filme, sondern politisch Filme zu machen, forderte Jean-Luc Godard einst – ein kleiner, entscheidender Unterschied. Genau so macht es Adela Picón. Keines ihrer Werke verkündet Botschaften, aber jedes entsteht im Bewusstsein, dass Kunst immer auch ein Produkt ihres gesellschaftlichen Umfelds ist. Am Schluss ihres Aufenthalts in Nordafrika reiste die Künstlerin durch Marokko nach Tanger, jetzt als Touristin und mit keinem guten Gefühl. Das «wunderbare Licht» in Tanger erinnerte sie an Paul Klees Malerei auf seiner Tunesienreise 1914. «Ich stelle mir vor», schreibt sie, «wie es gewesen wäre, zum Malen hierhergekommen zu sein, und in mir wächst eine Art Trostlosigkeit.»

Manchmal jedoch ist es ihr in der Schweiz fast zu ruhig und die Kunstszene zu wenig politisch.

Kann eine Künstlerin oder ein Künstler nicht mehr einfach irgendwohin reisen, um zu malen? «Doch, du kannst immer überall malen», antwortet sie. Aber wirklich überzeugend klingt es nicht, gerade von ihr, die sonst so darauf bedacht ist, die Dinge präzis beim Namen zu nennen. Schwer vorstellbar jedenfalls, dass Adela Picón noch einmal nach Melilla fahren würde, nur um zu malen. Sie wäre bald wieder bei den Strassenkindern.

Pasolini dort und da

In der Schweiz, in Bern, lebt sie seit rund 30 Jahren, immer wieder unterbrochen von Aufenthalten im katalonischen Girona. Sie fühlt sich gut hier und weiss die Vorteile eines Landes durchaus zu schätzen, dessen innere Ruhe auf Wohlstand, direkter Demokratie und einem schon lange währenden Arbeitsfrieden baut. Manchmal jedoch ist es ihr fast zu ruhig und die Kunstszene zu wenig politisch.

Wo ist sie wirklich daheim? Selbst wenn man ihr draussen vor dem «Lehrerzimmer» im Progr gegenübersitzt, an jenem Kulturort in Bern, den die Kulturschaffenden nach einem kreativen Beginn durch die Stadt selber übernommen haben, einem Stück neue Heimat, an dem auch sie teilhat, scheint Spanien näher zu liegen. Und eine andere Geschichte. Sie war 14, als sie im Kino in dem Dorf, in dem ihre Familie damals lebte, Pasolini-Filme gesehen hat – in heimlichen Vorführungen, die Werke des Italieners waren auf der roten Liste der Zensur. Wir hingegen sind für Pasolini ins nächste Studiokino gegangen. «Die verlorene Spur», sagt Adela Picón, «ist meine verlorene Spur.» Dort, wo alles angefangen hat, in Melilla, hat sie ihre Fährte aufgenommen.

Buch: Die verlorene Spur, edition clandestine; Ausstellung und Buchvernissage: Galerie Béatrice Brunner, 7.-21. Mai 2022; Gespräch der Künstlerin mit Alice Henkes: 14. Mai, 15 Uhr.