«Hauptsache, wir haben Spass dabei»

von Noah Pilloud 29. Juli 2023

Gurtenfestival Das Phänomen Hatepop auf dem Gurten entschlüsseln? Einen Versuch ist es wert. Behind the scenes mit dem Berner Musikkollektiv.

Hinter der Bühne liegen sich Leute in den Armen, stossen miteinander an oder starren erschöpft aber überglücklich in die Leere. Es lässt sich nicht genau fassen, aber irgendetwas Aussergewöhnliches ist bei diesem Auftritt von Hatepop auf der Waldbühne des Gurtenfestivals passiert. Berner Rap-Urgestein Greis ist voll des Lobes: «Die Aare hat gerade ein paar Kurven mehr gekriegt! Ihr tut dieser Stadt so gut!»

Wer ist dieses Kollektiv, wie sich Hatepop selbst bezeichnet, über deren Auftritt Greis zu schwärmen nicht aufhören kann? Wer gehört genau dazu und welche Art von Musik machen sie eigentlich? Um das Phänomen Hatepop zu verstehen, braucht es wohl mehr als einen Konzertabend mit dem Kollektiv. Aber es ist ein Anfang.

Am Freitagabend, dem dritten Festivaltag, um halb sieben versammelt sich das Kollektiv beim Crossloading des Gurtenfestivals. Um die 16 Personen sind anwesend, helfen beim Verladen der Instrumente oder besprechen schon erste Details. Die Szenerie ist etwas unübersichtlich und doch wirkt die Gruppe eingespielt und vertraut.

«Heute sind wir etwas mehr als auch schon», sagt Seretid, eines der Mitglieder. Dass sie mit einer relativ grossen Entourage zu den Auftritten reisen ist hingegen normal. Wer in dieser Entourage wofür zuständig ist, das sei nicht immer gleich. Arbion äussert dazu einen Satz, der an diesem Abend noch ein paar Mal fallen wird: «Das ist bei uns alles ein wenig fluid.» Er selbst ist zusammen mit Lola für das Visuelle zuständig. An jenem Tag bedeutet das, dass Arbion filmt und Lola fotografiert.

Der Hatepop-Sound

Weil eben alles ein wenig fluid ist, gibt es später denn auch eine Vorstellungsrunde: Name, Pronomen, Funktion. Da sind natürlich die Musiker*innen, die Technik und der Booker. Dann sind Leute für Frisuren und Make-Up zuständig, andere sind einfach als Begleitung dabei.

Wer was macht oder wie lange schon dabei ist, spielt aber gar keine so grosse Rolle. Wer dabei ist, ist Teil des Kollektivs und wird von allen als solcher behandelt. Das ist keine Plattitüde oder selbstauferlegte Regel, sondern schlicht gelebte Tatsache. Entsprechend familiär ist der Umgang untereinander.

Wie lässt sich aber das Soundbild von Hatepop beschreiben? Wer sich durch die jüngere Diskographie klickt, findet eine eher verwirrende, stilistisch sehr heterogene Sammlung vor. «Momentan gibt es grob betrachtet zwei verschiedene Sounds, die parallel laufen», sagt Kiyyan, «die rap- und metallastigere Musik, die vor allem Artbabe und Seretid machen und den Hyperpop von glitchBaby und mir.»

Einen Song auf dem alle vertreten sind habe es bisher noch nicht gegeben, zu dritt aber schon, wobei sich der Song dann stilistisch mehr in die eine oder andere Richtung bewegte. «Demnächst wollen wir uns zu einem gemeinsamen Musikcamp treffen, um an einem einheitlicheren Soundbild zu arbeiten», erzählt Kiyyan. Die Idee dazu sei ihm beim Schauen einer Doku über die Band «Bring Me the Horizon» gekommen. Die britische Band liefere Kiyyan momentan die grösste Inspiration, wie er erzählt.

Das Heimspiel

Obwohl nicht alle Mitglieder aus Bern kommen ist der Auftritt am Gurtenfestival für die meisten etwas Spezielles. Das wird schon beim Hochfahren auf den Berg klar. Als der Shuttlebus an der wartenden Menge bei der Gurtenbahn vorbeifährt, erblicken einzelne Mitglieder schon bekannte Gesichter. «Auf der Arbeit haben sie kürzlich herausgefunden, dass ich einen Auftritt habe», erwähnt Franco, «es wird wohl Arbeitskolleg*innen von mir im Publikum haben.» Ein Gedanke, der durchaus nervös macht.

Doch nicht alle sehen das so: «Auch wenn die Meisten von uns aus Bern sind, haben wir mit unserer Musik hier nie wirklich Fuss gefasst», meint Artbabe. Auf Spotify etwa hätten sie weit mehr Hörer*innen aus Zürich als aus Bern. Keine Spur von Nervosität also? Nein, meint Artbabe gelassen, jedenfalls nicht mehr als sonst.

Irgendwann können sich auch die letzten skeptischen Ohren nicht mehr dem Bann entziehen, der von dieser Musik ausgeht.

Es sei aber schon das grösste Konzert des Kollektivs bis jetzt. Jedenfalls was die Grösse des Publikums angeht. In der Woche zuvor spielten Hatepop am Openair St. Gallen. Da war die Bühne ähnlich gross, die Fläche davor bot aber weniger Platz fürs Publikum. «Aber das ist alles völlig egal», sagt Arbabe, «wichtig ist einfach, dass wir Spass haben!»

Die kollektive Party

Die Zeit bis zum Auftritt besteht zu einem grossen Teil aus Warten. Je mehr Zeit vergeht, desto grösser wird die Nervosität, unabhängig davon, ob das nun ein Konzert vor Heimpublikum ist oder nicht. Es ist also an der Zeit, sich abzulenken. Manche begeben sich zum Backstage-Catering bei der Hauptbühne, andere nutzen die Zeit, um sich die anderen Konzerte anzuhören.

Auf der Zeltbühne spielt an diesem Abend die deutsche Rapperin Badmomzjay auf. Ein mitreissender Auftritt, den sich einige Kollektivmitglieder aber nur aus der Ferne anschauen. So ganz scheinen sie den anstehenden Auftritt nicht vergessen zu können. Auch der Beginn des Konzerts Lil Nas X, dem Headliner des Abends, schafft es nicht, für vollständige Ablenkung zu sorgen. Dann wird es ohnehin Zeit, in den Backstagebereich zurückzukehren, wo sich der Rest bereits einsingt und einspielt.

Kurz vor ein Uhr füllt sich die Wiese zwischen Waldbühne und Soundgarden. Wer nicht sowieso schon Fan ist und sich bereits im Vornherein einen Platz vor der Bühne ergattert hat, bleibt nun auf dem Weg von der Haupt- zur Zeltbühne hier stehen, gespannt auf den nächsten Act.

Hinter der Bühne steigt die Nervosität. Sie wird nach den ersten Songs noch etwas anhalten und dann mit einem Schlag abfallen. Was folgt ist eine einzige Party auf und hinter der Bühne. Weil selten alle Musiker*innen zur selben Zeit und einige Kollektivmitglieder gar nie auf der Bühne stehen, besteht immer ein kleines Publikum hinter dem Vorhang.

Während Teile des Publikums auf der Gurtenwiese noch nicht ganz recht wissen, sie mit dem Sound von Hatepop anfangen soll, wird hinter der Bühne jeder Song abgefeiert. Eine Stimmung, die mitreisst, wahnsinnig Spass macht und für die Menschen auf der Bühne unterstützend wirkt. Auch die Gäste Soukey, Pit und Greis, die das Kollektiv für jeweils einen Song unterstützen, haben sichtlich Freude und geben vor, auf und hinter der Bühne alles.

Irgendwann können sich auch die letzten skeptischen Ohren nicht mehr dem Bann entziehen, der von dieser Musik ausgeht. «Ich denke heute haben ganz viele Leute Hatepop für sich entdeckt», wird Greis später sagen. Es ist zu hoffen, dass sich dies bewahrheitet.

Denn, obwohl der Sound für viele zu Beginn eigensinnig daherkommen mag, gehört er zum Interessantesten, das die hiesige Musikszene derzeit zu bieten hat. Er vereint Elemente aus Punk, Hip-Hop, Metal, Gabber, Pop und vielem mehr, das findigere Musikredaktor*innen hier zu benennen wüssten. Die Texte sind mal sozialkritisch, mal handeln sie von Herzschmerz, genereller Überforderung und Gender-Dysphoria aber auch vom Verliebtsein und allgemeinen Momenten der Euphorie. Vor allem aber ist Hatepop der Spass, den das Kollektiv mit seiner Musik hat, anzuhören. Das wirkt ansteckend.