Remigio Funiciello war 16 Jahre alt, als ihn sein Vater in die Schweiz schickte. Dort lebte sein älterer Bruder, und der hatte ihm in Thun eine Stelle als Tellerwäscher organisiert. Die 15-köpfige, in einem kleinen Bauerndorf in der Provinz Caserta lebende Familie war auf eine zusätzliche Geldquelle dringend angewiesen. So steckte der Vater dem zweitältesten Sohn bescheidene 5000 Lire in die Tasche und schickte ihn auf die Reise.
Seine Ankunft in Thun bleibt ihm unvergesslich: Am 6. Januar 1970 traf er dort ein, und als erstes gab es Sauerkraut zu essen. Er brach in Tränen aus, weil er «das gruusigi Züüg» nicht runter brachte. Heute macht er daraus einen Beweis seiner Integration: Wenn er wählen könne zwischen Sauerkraut und Spaghetti, so entscheide er sich jetzt für das Sauerkraut, behauptet er. So angepasst sei er.
Nach zwei Jahren hatte er das Tellerwaschen im Restaurant Rössli satt und begann in einer Schreinerei in Schüpfen zu arbeiten. Seine dortigen Arbeitskollegen wiesen ihn auf die CISAP in Bern hin, bei welcher er sich weiterbilden könne. In Abendkursen holte er zunächst die ihm fehlende Grundschulbildung nach und begann dort auch eine Lehre als Dreher. Die dazu notwendige Lehrstelle fand er bei der Maschinenfabrik Wifag AG.
Solidaritätsarbeit für Lateinamerika
Der Wechsel zur Wifag im Jahre 1974 erwies sich für sein weiteres Leben als entscheidend. Seine nächsten Arbeitskollegen waren uruguayanische Staatangehörige, die nach dem Militärputsch vom 27. Juni 1973 in die Schweiz geflüchtet waren. Von ihnen lernte er, gesellschaftliche Zusammenhänge zu verstehen, und mit ihnen wurde er politisch aktiv. Bald war er in Solidaritätskomitees tätig und reiste 1980, also noch während der Herrschaft der Militärdiktatur, auch selber für mehrere Monate nach Uruguay. «Das ist der Grund, weshalb ich heute noch besser Spanisch als Deutsch spreche», erzählt Remigio Funiciello. «Am Arbeitsplatz wurde Italienisch gesprochen, in der Freizeit Spanisch. Was auf Deutsch erledigt werden musste, besorgte meine damalige Freundin und spätere Ehefrau.»
1984 gründete er, zusammen mit andern Leuten aus Bern, die in der Lateinamerika-Solidarität aktiv waren, die heute noch aktive Brigada latino-bernesa, die Kleinprojekte der ländlichen Bevölkerung in Nicaragua unterstützt. Das dafür nötige Geld wird mit Spenden und durch den Verkauf von Speisen und Getränken an Standaktionen gesammelt. Klar, dass Remgio auch bei all diesen Veranstaltungen aktiv mithilft.
1992 kündigte er bei der Wifag, weil ihm das Schweizerische Arbeiterhilfswerk eine Stelle bei einem Entwicklungsprojekt in Nicaragua angeboten hatte. Wenige Tage vor Projektbeginn blies das SAH das Projekt ab, weil sich die Finanzierung zerschlagen hatte. Remigio und Lotti Funiciello, inzwischen Eltern einer knapp zweijährigen Tochter, standen auf der Strasse. Zwar bot ihm die Wifag die Weiterführung des Arbeitsverhältnisses an, doch entschieden sich die Eheleute anders: Sie beschlossen, nach Italien auszuwandern und dort eine neue Existenz aufzubauen.
In Bosa an der sardischen Westküste bauten sie sich ein Haus und Remigio eröffnete eine Schuhmacherei. Auch das war Zufall: «Eines Tages waren meine Schuhe kaputt, und ich stellte fest, dass es weit und breit keine Schuhmacherei gab», erzählt er. «Schuhe flicken kann ich doch selber, sagte ich mir, und bot die Dienstleistung auch Anderen an. Daraus entstand mein kleines Schuhmachergeschäft.»
Rückkehr zu «Mamma Wifag»
Acht Jahre lebte die inzwischen vierköpfige Familie in Sardinien. Dann aber begannen die Eltern zu realisieren, dass es für die beiden Kinder dort keine schulischen und auch keine beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten gab. «Ich hätte meine Kinder in die gleiche Lage ohne Perspektive gebracht, wie ich sie als Kind erlebt hatte. Das wollten wir nicht», blickt er heute zurück. Also brach die Familie ihre Zelte in Bosa ab und kehrte im Jahre 2000 nach Bern zurück.
Wenn Remigio Funiciello von der Wifag redet, so spricht er immer von der «Mamma Wifag», der guten Mutter Wifag. Grund dafür ist nicht nur die Tatsache, dass die Firma ihm eine Berufsausbildung ermöglichte und ihm auch wiederholt unbezahlten Urlaub für Reisen nach Lateinamerika gewährte, sondern auch die Erfahrung, die er bei seiner Rückkehr machte. Er rief die Wifag an, sagte, dass er wieder in Bern sei, und fragte, ob sie für ihn wieder eine Stelle hätten. «Wir haben auf Sie gewartet», antwortete ihm die Geschäftleiterin Ursula Wirz, «Sie können morgen anfangen».
2009 stellte die Wifag ihren Betrieb ein. Remigio Funiciello war 56-jährig und hatte keine reelle Chance, nochmals eine Stelle zu finden. Zwei Jahre lang wurde er noch mit Aufräumarbeiten beschäftigt. Im frühest möglichen Zeitpunkt liess er sich frühzeitig pensionieren.
Betriebsleiter des Breitsch – Träff
Seither ist Remigio Funiciello im Breitsch-Träff aktiv. Auch das ist Zufall. Dem Breitsch-Träff drohte die Schliessung, und die Betreiberinnen und Betreiber lancierten eine Petition zum Erhalt des Quartierzentrums. Remigio hörte davon und half in der Folge aktiv bei der Unterschriftensammlung. Dann wurden seine handwerklichen Fähigkeiten zunehmend bei Reparaturarbeiten und bei der Instandhaltung des Schulzimmers benötigt. Das Zentrum wurde damals tagsüber als Schulraum benützt, weshalb der Saal nach den Abendveranstaltungen jeweils wieder in einen unterrichtstauglichen Zustand versetzt werden musste. «Die vielen Papiermenschen waren froh, dass da noch ein Praktiker war», meint er rückblickend zu seinem Einstieg im Breitsch-Träff, der heute von der VBG mit einem Betriebskostenbeitrag unterstützt wird.
Bald einmal begann er auch selber Veranstaltungen zu organisieren. Inspiriert vom Schäfchen-Diskurs in der schweizerischen Politik bildete er mit Kolleginnen und Kollegen unter dem Namen «Pecore Ribelli» (aufmüpfige Schafe) ein Komitee, das kulturelle Veranstaltungen, Politdiskussionen und vieles anderes mehr organisiert. Dabei werden auch Wein und andere Produkte verkauft, die von Genossenschaften in Sizilien stammen, die auf enteigneten Mafia-Gütern landwirtschaftliche Betriebe aufbauen. Zurzeit bereitet er sich auf die 2. Filmtage der «Pecore Ribelli» vom 16. bis 18. November vor. Gezeigt werden Filme über die Ausbeutung von Menschen und Bodenschätzen durch Konzerne, die ihren Sitz in der Schweiz haben.
Warum macht er das alles, ohne dabei einen Rappen zu verdienen? «Wenn wir bei unsern Veranstaltungen ein volles Haus haben und ich die Reaktionen der Leute sehe, dann weiss ich, warum ich das mache», sagt er nach einigem Zögern. Konkrete Dinge bewirken, Menschen in schwierigen Situationen unterstützen, das ist seine Motivation. Er ist kein Festredner. Er ist ein Handwerker der Solidarität.