Die Meldung war in der Hektik der Vorweihnachtszeit beinahe untergegangen: Die städtische FDP ist mit der Unterschriftensammlung für ihre Initiative «Meh Wohnige für Bärn» deutlich gescheitert. Nur rund 3‘500 Unterschriften haben die Liberalen und Jungfreisinnigen zusammenbekommen. Nötig wären gut 2’000 mehr gewesen, um unter Berücksichtigung der Ungültigkeitsquote auf die erforderlichen 5’000 Unterschriften zu kommen.
Dass der einst stolze Berner Freisinn heute nicht mal mehr zustande bringt, wofür manche Vereine nur die Hälfte der gesetzten Frist benötigen, ist bezeichnend für den Zustand der Stadtberner Bürgerlichen und spiegelt die Ergebnisse der Gemeindewahlen vom letzten November wider. Zum ersten Mal überhaupt sind die Bürgerlichen ab dieser Legislatur nicht mehr in der Stadtregierung vertreten (wenn die GLP nicht zum bürgerlichen Block gezählt wird). Die gescheiterte Initiative zeigt in erster Linie, dass ihre Schwäche vor allem selbstverschuldet ist.
Progressive Anliegen sind schon fast zum Mainstream geworden.
Ganz anders präsentiert sich die Situation links der politischen Mitte: Das Rot-Grün-Mitte-Bündnis (RGM) zwischen der SP, dem Grünen Bündnis (GB) und der Grünen Freien Liste (GFL) konnte seinen Stimmenanteil bei den letzten Wahlen noch einmal steigern. Zwei von drei Stimmen gingen bei den Gemeinderatswahlen an die RGM-Liste. Das Parteienbündnis, das 1992 seinen Anfang nahm und die Stadt seither ununterbrochen regiert, sieht seine Politik damit einmal mehr von der Bevölkerung gestützt.
Die Übermacht des Bündnisses zeigt, dass es seinen ursprünglichen Zweck längst überlebt hat. Die Mehrheit von RGM ist in der Stadt Bern heute ungefährdet, progressive Anliegen sind schon fast zum Mainstream geworden. Und doch ist auch bei vielen Linken eine gewisse Frustration auszumachen.
Anspruch und Realität
Wer die RGM-dominierte Politik der letzten Jahre analysiert, gelangt zu einer Erkenntnis, die angesichts der Mehrheitsverhältnisse in der Stadt überrascht: Die formulierten Ansprüche und die politische Realität klaffen in vielen Politikbereichen mehr oder weniger weit auseinander. Nirgends zeigt sich dies anschaulicher als beim Thema Auto: In städtischen Strategiepapieren wie auch in überwiesenen Vorstössen des Stadtrats wurden dazu ambitionierte Ziele formuliert. So ist etwa in der Energie- und Klimastrategie das Ziel festgehalten, die Anzahl öffentlicher Parkplätze «mittelfristig» zu halbieren.
Bei der Erfüllung des 2019 formulierten Anspruchs ist der Gemeinderat aber noch nicht weit gekommen: In der Antwort auf eine kürzlich eingereichte Interpellation musste er eingestehen, dass er im Zeitraum von 2019 bis 2022 die Zahl der öffentlichen Parkplätze nur um 4% reduzieren konnte. In der gleichen Zeit wurden so viele neue private Abstellplätze realisiert, dass es heute in Bern ein grösseres Parkplatzangebot gibt als 2019. Die Liste an Beisshemmungen gegenüber dem Autoverkehr lässt sich lange fortführen: Die Unterstützung des Gemeinderats für den Anschluss Wankdorf; die wenig ambitionierte Erhöhung der Parkgebühren; der sehr zahme Gegenvorschlag zur Stadtklima-Initiative; oder das zögerliche Vorgehen beim autofreien – pardon, autoarmen – Bahnhofplatz. In einem zentralen Schwerpunkt seiner Politik tut sich RGM schwer, seine Vorstellungen in die Tat umzusetzen.
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Die Verkehrspolitik ist bei weitem keine Ausnahme. So wird Bern heute in den überregionalen Medien kaum mehr als «linkste Stadt der Schweiz» bezeichnet, wie es noch vor wenigen Jahren der Fall Jahr. Diesen inoffiziellen Titel hat die Bundesstadt an Freiburg verloren. Nicht, weil die Freiburger Bevölkerung linker wäre als jene in Bern; sondern, weil dort vor allem junge, ambitionierte Politiker*innen darum besorgt sind, linke Ansprüche auch in die Tat umzusetzen.
In den grossen Medien werden die Unterschiede zwischen politischem Anspruch und Realpolitik unter RGM kaum je thematisiert (mit Ausnahme der verfehlten Ziele der Finanzstrategie). Aus ihrer tendenziell bis klar bürgerlichen Warte scheint alles, was RGM beschliesst, seiner linken Agenda zu entspringen. Die hohen Zustimmungswerte zu den städtischen Vorlagen oder auch der Erfolg bei den letztjährigen Wahlen werden darauf zurückgeführt, dass die Berner*innen einfach sehr, sehr links seien. Beispielhaft dafür ist der Kommentar von Marcello Odermatt zu den Gemeinderatswahlen in den Tamedia-Zeitungen. Dass der Zuspruch damit zu tun haben könnte, dass die Realpolitik von RGM einfach nicht so ambitioniert und deshalb wenig umstritten ist, wird nicht in Betracht gezogen; ganz zu schweigen vom Zustand der politischen Konkurrenz.
Linke Kritik
Auf die Prämisse «RGM-Politik gleich links» ist wohl auch zurückzuführen, dass über die wachsende Unzufriedenheit der Berner Linken mit RGM in den letzten Jahren kaum berichtet wurde. Vielleicht wurde sie auch gar nicht bemerkt. Dabei mangelt es bis in die RGM-Fraktionen hinein nicht an linker Kritik am Kurs des Bündnisses. Besonders deutlich wurde die Unzufriedenheit ausgerechnet beim 30-jährigen Jubiläum von RGM im Jahr 2022: Dort hielten Anna Jegher von der Jungen Alternative (die auch die Stadtsektion der Jungen Grünen ist) und Paula Zysset von der JUSO eine Abdankungsrede auf das Bündnis. JA! und JUSO, die sich nicht als Teil von RGM verstehen, gaben damit der Hoffnung Ausdruck, das Bündnis möge sich bald auflösen und die beteiligten Parteien wieder mutigere, eigenständige Politik machen.
Die linke Kritik betrifft zwei Ebenen und ist schnell zusammengefasst: Inhaltlich orientiere sich RGM – und damit auch der Gemeinderat – am kleinsten gemeinsamen Nenner; also faktisch an der Position der «Realos» am rechten Rand des Bündnisses. Die GFL wurde als Mitte-Links-Partei lange als Hauptschuldige an der zahmen Politik von RGM ausgemacht.
Nach dreissig Jahren RGM-Mehrheit wird das Bündnis zunehmend als Konstrukt zum Machterhalt betrachtet.
In letzter Zeit geriet aber zunehmend die SP in den Fokus der Kritik. Denn sie hätte sowohl im Gemeinde- wie auch im Stadtrat arithmetisch die Möglichkeit, mit einer linken Mehrheit eine ambitionierte, progressive Agenda durchzusetzen. Dass die machtbewusste SP dies nicht tut, kann kaum der viel kleineren Bündnispartnerin angelastet werden. Dies führt zum zweiten, prinzipiellen Kritikpunkt: Nach dreissig Jahren RGM-Mehrheit wird das Bündnis zunehmend als Konstrukt zum Machterhalt betrachtet, das sich schlecht mit dem linken Selbstverständnis vereinbaren lässt. Politische Inhalte würden zunehmend dem Machtanspruch der drei RGM-Parteien untergeordnet.
Bern kommt nicht so recht vom Fleck
Es sind aber nicht nur die unerfüllten linken Ansprüche, die bei einem sachlichen Rückblick auf die Stadtberner Politik auffallen. Ganz grundsätzlich ist festzustellen, dass Bern seit Mitte des letzten Jahrzehnts an Dynamik eingebüsst hat. Dies fällt besonders auf, wenn man die bauliche Entwicklung der Stadt in den letzten acht Jahren mit der Amtszeit von Alexander Tschäppät vergleicht. Grosse Projekte wie das Viererfeld oder das Gaswerkareal befinden sich zwar im Planungsprozess, haben aber mit jahrelanger Verzögerung zu kämpfen.
Bezeichnend für die Entwicklungsschwierigkeiten der Stadt sind auch die Probleme im IT-Bereich. In manchen Gebieten, etwa bei der Förderung des Veloverkehrs, kann RGM zwar durchaus Erfolge vorweisen. Doch grosse Würfe sind das nicht. Vieles des Erreichten sollte in einer Schweizer Stadt eigentlich selbstverständlich sein. Bern profitiert gerade im Verkehrsbereich einfach von der teils erschreckenden Ambitionslosigkeit anderer Städte, welche die Bundesstadt im Vergleich gut aussehen lässt.
Nun ist eine etwas langsamere Entwicklung weder grundsätzlich negativ zu bewerten, noch ist sie ausschliesslich auf die politischen Rahmenbedingungen zurückzuführen. Sie ist aber ein Hinweis, dass es in der städtischen Politik entweder an Gestaltungswille fehlt, oder am Durchhaltevermögen, diesen in die Tat umzusetzen.
Ideenlose Konkurrenz
Dass sich RGM eine Politik mit Hang zum Stillstand leisten kann, hat auch viel mit dem Zustand der Bürgerlichen in der Stadt Bern zu tun. Diese haben es schlicht verpasst, den progressiv eingestellten Berner*innen eine Alternative zur RGM-Politik zu bieten. Ihre Politik erschöpft sich zu grossen Teilen in der (erfolglosen) Opposition gegen die städtische Finanz- und Verkehrspolitik. Eigene Visionen für die Stadt sind kaum erkennbar. Und wenn doch konkrete Vorschläge von rechts kommen, wirken sie bestenfalls halbgar.
Das beste Beispiel dafür liefert die gescheiterte FDP-Initiative «Meh Wohnige für Bärn». Sie wollte es Hauseigentümer*innen grundsätzlich erlauben, ihre Häuser um eine Etage aufzustocken. Ganz unabhängig von politischen Aspekten hat dieser Ansatz ein Problem: Er bricht mit einem der absoluten Grundpfeiler der Schweizer Raumplanung; der Einteilung des Baugebiets in verschiedene Zonen, in denen jeweils bestimmte Nutzungen und eine relativ einheitliche Bebauungsstruktur mit einer bestimmten Anzahl Vollgeschossen erlaubt sind.
Wie wirkungslos die bürgerliche Fundamentalopposition in der Stadt ist, zeigt ein Vergleich zur linken Politik auf Kantonsebene.
Nun ist es nicht verkehrt, mit Initiativen Grundsatzdebatten anzustossen. Als Mittel zur schnellen Linderung der Wohnungsknappheit, als das die Initiative verkauft wurde, taugen solche Diskussionen aber wenig. So war ungewiss, ob die Initiative rechtlich überhaupt zulässig gewesen wäre.
Um die linke Mehrheit in Bern herausfordern zu können, müssten die übrigen Parteien einen Viertel der RGM-Wähler*innen davon überzeugen, eine echte Alternative zu bieten. Auf den ersten Blick keine einfache Ausgangslage. Es kann aber davon ausgegangen werden, dass ein beträchtlicher Teil der SP- und GFL-Wähler*innen zwar gesellschaftlich progressiv und ökologisch, aber im Grundsatz eher sozialliberal als «links» eingestellt ist. Dieses Segment wäre für die Bürgerlichen durchaus erreichbar, wenn sie es denn schafften, ihre Politik dem städtischen Milieu anzupassen.
Versuche dazu gab es (Stichwort «FDP urban»), doch sind sie mehr oder weniger kläglich am Unvermögen gescheitert, die eigenen Positionen vor dem «urbanen Hintergrund» kritisch zu reflektieren. So beschränkt sich die Politik der klassischen bürgerlichen Parteien – zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung – auf die Opposition gegen bestimmte Schwerpunkte von RGM, etwa ihrer Verkehrspolitik. Dass diese von einer überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung als überfällige Errungenschaft begrüsst wird, scheint bei den Bürgerlichen noch nicht angekommen zu sein.
Damit sich etwas ändert, bräuchte es vor allem zwei Dinge.
Wie wirkungslos die bürgerliche Fundamentalopposition in der Stadt ist, zeigt ein Vergleich zur linken Politik auf Kantonsebene, wo die Kräfteverhältnisse ziemlich genau umgekehrt sind. Hier schafft es die Linke regelmässig, die bürgerlichen Pläne zu durchkreuzen und in vielen Bereichen eigene politische Schwerpunkte zu setzen. Das klappt nur, weil sie in verschiedenen Themenbereichen auch bürgerlich eingestellte Menschen mit ihrer Politik erreicht. Auf eidgenössischer Ebene ist es nicht anders, wie das vergangene Politjahr eindrücklich zeigte.
Von der Situation profitieren könnte eigentlich die GLP, die sich in gesellschaftlichen und ökologischen Fragen links der klassischen bürgerlichen Parteien positioniert. Sie hätte schon deshalb die besten Voraussetzungen, RGM Stimmenprozente abspenstig zu machen. Die Bedingung dafür wäre, dass sie sich von der ideenlosen Fundamentalopposition der Berner Bürgerlichen (zumindest von FDP und SVP) distanziert. Mit der gemeinsamen Liste für die Gemeinderatswahlen hat sie den Wähler*innen aber genau das Gegenteil vermittelt. Da half es auch nichts, dass der Zusammenschluss von der Parteiführung als reine Zweckgemeinschaft verkauft wurde. Die beiden Stadtratssitze, welche die Grünliberalen in der letzten Legislatur durch Übertritte verloren hatten – bezeichnenderweise an die SP und die GFL – konnten bei den Wahlen nicht zurückgeholt werden (GLP und jglp verloren je einen Sitz).
Aus dem Trott ausbrechen
Unter dem Strich bleibt die Feststellung, dass der politische Ideenwettbewerb in Bern ins Stocken geraten ist. Damit sich daran etwas ändert, bräuchte es vor allem zwei Dinge: Die RGM-Parteien müssten den Mut haben, auch wichtige Geschäfte primär öffentlich zu verhandeln statt hinter verschlossenen Türen vorzuspuren – ohne Angst, nach Jahren der Ungeschlagenheit auch mal mit einer ambitionierten Vorlage vor dem Volk zu scheitern. Dies würde es auch den übrigen Parteien erlauben, sich stärker mit konstruktiven Vorschlägen einzubringen.
Die Bürgerlichen müssen ihrerseits grundsätzlich über die Bücher. Statt zu versuchen, den eigenen Machtanspruch mithilfe fragwürdiger Allianzen durchzusetzen, sollten sie sich endlich vertieft mit den Bedürfnissen der städtischen Bevölkerung auseinandersetzen und ihre Oppositionspolitik entsprechend überdenken.
Als erstes Schrittchen in die richtige Richtung ist die Annahme einer Motion von FDP-Stadtrat Tom Berger zu werten, die Hürden für städtische Referenden und Initiativen deutlich zu senken. Dies dürfte es kleinen Parteien und Interessenvertretungen einfacher machen, auf die städtische Politik Einfluss zu nehmen. Um aus dem Trott der letzten Jahre rauszukommen, muss sich aber vor allem die etablierte Politik gute Vorsätze für die neue Legislatur fassen.
Raphael Wyss ist Geschäftsleiter des Vereins Spurwechsel und engagiert sich bei der Jungen Alternative JA! in der Stadtpolitik. Im Moment vertritt er Janine Schneider in der Redaktion von Journal B.