Gut für Bern

von Janine Schneider & Noah Pilloud 14. Mai 2025

Performancekunst Das diesjährige Theaterfestival Auawirleben widmet sich unter dem Motto «Good on you!» marginalisierten Stimmen. Wir berichten von fünf höchst unterschiedlichen Aufführungen.

Zugegeben, wir konnten uns einfach nicht entscheiden. Die Vielfalt und Anzahl der Aufführungen, die am Festival Auawirleben gezeigt werden, ist auch dieses Jahr wieder beeindruckend gross. Wir haben uns deshalb entschlossen, fünf verschiedene Performances zu besuchen und darüber zu schreiben. Sie alle stehen unter dem Festivalmotto «Good on you!» und gehen ihren eigenen Weg: leisten Widerstand, werfen kritische Blicke ins Publikum zurück oder spenden Hoffnung.

Es braucht Mut, sich selbst zu feiern (40/40)

(Foto: Beth Chalmers)

Katherina Radeva ist vierzig. Und mit vierzig möchte die bulgarisch-britische Performancekünstlerin und Bühnenbildnerin einmal all das machen, was sie sich ansonsten versagt: Tanzen, Spass haben, ihre Meinung sagen. Dass sie sich dabei nicht völlig vom Wunsch distanzieren kann, die Zuschauer*innen zu unterhalten, wird gleich zu Anfang klar, wenn sie sagt: «Ich hoffe, also, euch nicht zu enttäuschen, und falls ich es doch tue, hoffe ich, ihr könnt mir verzeihen.»

Mit ihrer Show nimmt Radeva das Publikum auch auf eine Reise mit durch ihr bisheriges Leben und die Zweifel und Lehrplätze, die sie bis heute begleiten. Bereits als Kind wurde ihr das Tanzen versagt: Als «dickes, stämmiges Mädchen» durfte sie zwar in die Trainings der Rhythmusgymnastik, aber nicht an die Wettbewerbe – sie sei zwar sehr gut und beweglich, erklärte die Trainerin ihren Eltern, «aber sie passt einfach nicht ins Bild». Worte, die sie bis heute begleiten. In die Rhythmusgymnastik ging die junge Katherina daraufhin nicht mehr, aber ihre Liebe zum Tanzen bestand fort. Und diese lebt sie nun endlich auch auf der Bühne aus.

Wenn Radeva zu Popikonen wie «Sweet Dreams», melancholischen Rockballaden, avantgardistischem Jodel und traditioneller Balkanmusik über den Teppich aus kunstvoll mit Tape geklebten Figuren wirbelt, durchbricht sie dabei auch immer wieder so manche scheinbar fest eingerastete Schublade. Mal führt sie den traditionell von Männern geleiteten bulgarischen Kreistanz an, mal tanzt sie in Unterhemd und Trachtenkrone, zeigt ihren Körper.

Als ‹dickes, stämmiges Mädchen› durfte sie zwar in die Trainings der Rhythmusgymnastik, aber nicht an die Wettbewerbe.

Zwischen den Songs erzählt Radeva in aufgenommenen Voiceovers von ihren Gedanken, Zweifeln und Ideen. Ein wenig wünscht man sich als Zuschauerin, dass sie diese direkt dem Publikum erzählen würde, denn es ist ihre Ausstrahlung mehr als ihre Choreografien, die die Show in besonderem Ausmass trägt. Dann jedoch erzählt sie in einem Voiceover, dass ihr ein Bekannter gesagt habe, «mach alles, aber bitte keine Voiceover, zu denen du dich dann bewegst» – und damit wird klar, dass diese künstlerische Entscheidung auch einen emanzipatorischen Hintergrund hat.

In den eingespielten Audioaufnahmen macht Radeva deutlich, dass sie während des Entstehungsprozesses durchaus Zweifel an ihrer Show begleitet haben. Seit sie als Sechzehnjährige nach England ging, verfolgt sie das Gefühl wie es viele Menschen mit Migrationsgeschichte kennen mögen: sie sei hier um zu arbeiten, um nützlich zu sein, um Geld nach Hause zur Familie zu schicken. Eine Show, die sich selbst feiert? Ist das wirklich Kunst? Ändert das die Welt? – Nein, antwortet Radeva sich selbst darauf. Und auch das erlaubt sich Radeva zu ihrem vierzigsten: zu benennen, was diese One-Woman-Show nicht verändern kann – aber auch, was sie vielleicht kann.

Text: Janine Schneider

Widerständige Aneignung (Juice)

(Foto: Fotonoid)

Ein Glaskasten, der einem Aquarium gleicht. Darin: River Roux, ein Reifen, ein Klappstuhl, ein Latex-Mantel und jede Menge schleimiges Gel, in kleine Beutelchen abgepackt. Das sind die Grundzutaten der Performance «Juice». Was die Performancekünstlerin River Roux daraus machte, ist ein so berührendes wie aufwühlendes Stück über das von Spannung geprägte Verhältnis zwischen Körper und Blick.

Der Hauptteil des Textes basiert auf den minutiösen Beobachtungen eines Mediziners, der die Körper von Hermaphroditen – so wurden intergeschlechtliche Menschen früher genannt – untersuchte. River Roux eignet sich diese Worte und den inspizierenden Blick an und zeigt auf, wie viel Gewalt in diesem Blick liegt. Schonungslos verdeutlicht sie, mit welcher Gewalt Wissenschaft und Medizin die Körper und Leben intergeschlechtlicher Menschen in Kategorien und Schubladen zwängt. Vermeintlich im Interesse der Betroffenen. «For your health», heisst es im Stück immer wieder.

Der titelgebende Saft wird dabei zur Metapher für das Geschlecht, das eben flüssig und amorph ist, das immer wieder aus dem Gefäss ausbricht, sich ergiesst über Körper und Normen.

Nicht nur indem sie sich die Worte aneignet und die Gewalt offenbar macht, ist die Performance widerständig. River Roux spielt zudem mit der Lust am Betrachtet-werden. Dieses bewusste Spiel mit dem neugierigen, untersuchenden Blick hat etwas Ermächtigendes. Es zeigt die Möglichkeit auf, sich trotz des Blickes von aussen in seinem Körper wohl und schön zu fühlen und das nach aussen zu tragen.

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Dennoch bleibt Raum für Zerbrechlichkeit und Schwäche. Denn auch der eigene Versuch, den Körper in eine Form zu pressen misslingt. Der titelgebende «Juice», der Saft, wird dabei zur Metapher für das Geschlecht, das eben flüssig und amorph ist, das immer wieder aus dem Gefäss ausbricht, sich ergiesst über Körper und Normen. Auch hierin liegt eine Widerständigkeit. Eine, die in der Performance sehr kraftvoll zum Ausdruck kommt.

Text: Noah Pilloud

Wem gehört der Raum? (A Spectacle of Herself)

(Foto: Holly Revell)

Der Clown kommt überraschend. Überlebensgross spricht er von der Leinwand zum Publikum, die Züge übermaskiert, die Sätze eindrücklich und leicht verwirrend: «Das alles ist ein grosses Stück Performancekunst namens westliche Zivilisation» oder «Du bist ein Stück Fleisch, schwebend zwischen Vagina und Grab».

Auf den Clown folgt kein Zirkusstück, auch wenn Performanceartist Laura Murphy immer wieder am Seil akrobatisch durch die Luft schwebt – mal als Astronaut*in im Weltall, mal als halbnackter Fensterputzer aus einer Werbung. Murphy verbindet Luftakrobatik mit humoresken und absurden Szenen sowie mit viel Textperformance: Sarkastisch erzählt die britische Künstler*in vom nicht immer einfachen Umgang mit der eigenen Neurodivergenz («Manchmal wache ich morgens auf und der Himmel ist zu hell»), vom Leben als weiblich gelesene Person («Als Frau in unserer Gesellschaft ist es, wie mit dem Fahrrad auf einer Strasse zu fahren, die eigentlich für Autos bestimmt ist») und von den alltäglichen Wünschen, Sehnsüchten und Gewohnheiten («Ich mag es Reality TV zu schauen. Hauptsache, es ist nicht real»). Dazwischen imitiert Murphy immer mal wieder Elon Musk, während they auf einem Hoverboard über die Bühne fährt.

Manchmal wache ich morgens auf und der Himmel ist zu hell.

Im Solostück «A spectacle of herself» beschäftigt sich Murphy viel mit Raum und dem Rennen um den (Welt)raum im 21. Jahrhundert. Wer nimmt welchen Raum ein und wem gehört Raum? «Bin ich wie die Nasa oder Elon Musk, wenn ich hier Worte einfach so in den Raum schicke? In einen Raum, der vielleicht gar nicht gefüllt werden will?», fragt sich Murphy gegen Schluss der Performance.

(Foto: Holly Revell)

Trotz der schweren Themen bleibt die Show durchgehend sehr unterhaltsam – bricht dafür aber nur selten mit den Erwartungen. Wo Murphy das tut, wirkt es umso stärker, etwa die Szene, als they mit einem Karton auf dem Kopf vor dem Mikrofon steht, im Hintergrund singt Whitney Houston «I will always love you». Plötzlich beginnt der Kartonkopf auf das Mikrofon einzuschlagen, immer stärker, bis das Mikrofon sich aus der Halterung löst, bis es am Boden liegt, sie beide am Boden liegen und das Lied zu Ende ist. Dem Spektakel hätte man noch länger zusehen mögen.

Text: Janine Schneider

Was für ein Mensch soll dein Kind werden? (First Trimester)

Das ist besser als Reality TV. Und ziemlich real. Auf der Bühne: zwei bequeme grüne Sessel in einer Art Wohnzimmer, darüber ein Dach aus Neonröhren, Tischchen, weisse Rosen, Lampen. Auf einem Sessel sitzt Krishna Istha mit iPad, weissem Hemd, dunkelgrün kariertem Schottenrock und wiesengrüner Krawatte. Auf dem anderen Sessel sitzt jeweils eine Person, die sich als potenzielle*r Samenspender*in angemeldet hat und nun während zehn Minuten verschiedenste Fragen beantwortet: Vertraust du Ärzt*innen? Welche Eigenschaften ziehen dich an einer Person an? Kannst du uns ein Lied singen?

Der Hintergrund: Als sich Performancekünstler*in Istha und their Partner Logan Anfang 2020 erstmals mit der Frage auseinandersetzten, wie es wäre, ein Kind zu haben, merkten sie schnell, dass die üblichen Informationen in den Samendatenbanken «Dinge waren, die uns nicht unbedingt wichtig waren: Grösse, Augenfarbe, und ob sie PHDs haben oder nicht.»

Damit lernen Minuten lernen Ishta und das Publikum eine Person in kurzer Zeit so intim kennen, wie es ein normales Smalltalk-Gespräch über Alter, Beruf, Hobbies nie hinkriegen würde.

Andere Eigenschaften einer Person würden sie dagegen viel mehr interessieren. Und damit kommen wir wieder zurück zu unserem Wohnzimmer auf der Bühne des Schlachthaus Theaters. Da werden Fragen gestellt wie: Wo tanzt du am liebsten im Klub, in der Mitte oder in einem dunklen Ecken? Du findest eine Brieftasche mit 300 Schweizer Franken, was machst du? Aber auch: Was würdest du denken, wenn du uns Samen spendest und du dann ein Foto des Kindes erhältst, das genau gleich aussieht wie du? Wer ist von dir abhängig? Wann hast du zum letzten Mal laut gelacht? Was haben deine Eltern mit dir als Kind gemacht, dass du mir empfehlen würdest, auch mit meinem Kind zu machen? Was findest du wichtiger – individuelle Entscheidungsfreiheit oder kollektives Wohlbefinden? Was macht eine Familie aus?

(Foto: Jordon Rossi & Emily Blake)

Damit lernen Minuten lernen Ishta und das Publikum eine Person in kurzer Zeit so intim kennen, wie es ein normales Smalltalk-Gespräch über Alter, Beruf, Hobbies nie hinkriegen würde. Das hat hohes Suchtpotenzial – und bei jeder Frage überlegt man gleich selbst, wie man sie beantworten würde. So lernen die Zuschauer*innen nicht nur etwas über andere, sondern auch über sich selbst.

Die Gespräche sind unglaublich unterschiedlich, oftmals gleichzeitig humorvoll, berührend und persönlich, zum Beispiel wenn eine Person auf die Frage «Wie verstehst du dich mit deiner Familie?» antwortet: «Seit ich in Therapie gehen, etwas weniger gut.» Es ist in erster Linie Ishtars wertschätzender Art zu verdanken, dass das Frage-Antwortspiel nie unangenehm wird und sich die Interviewpartner*innen, obwohl manchmal nervös, sichtlich wohl fühlen in diesem ungewohnten Setting. Manche sind aus Neugier gekommen, andere aus persönlichem Interesse, weil sie selbst schwanger sind als queere Person, schon einmal Samen gespendet haben oder sich Gedanken über queeres Familienleben machen.

Fazit: Die drei Stunden verfliegen im Schnelldurchlauf und lassen einen mit vielen Fragen zurück, an denen man noch lange herumgrübeln kann. Was macht eine Familie aus? Wie soll ein Kind aufwachsen? Welche Eigenschaften schätzen wir an unseren Mitmenschen?

Text: Janine Schneider

Viele Perspektiven und unmittelbare Momente (For Real)

(Foto: Petra Nieuwburg)

Das Theater als Medium kann deshalb eine grosse transformative Kraft entfalten, weil es zwei Aspekte miteinander verbindet. Zum einen ist das eine gewisse Perspektivenvielfalt. Egal, wie viele Menschen auf der Bühne stehen, welche Geschichte erzählt wird, ob überhaupt im klassischen Sinne etwas erzählt wird oder nicht: Beteiligt an einer Inszenierung sind immer viele Menschen und somit besteht zumindest das Potential, viele verschiedene Perspektiven und Gedankengänge zusammenfliessen zu lassen. Der zweite Aspekt ist die Unmittelbarkeit der Performance. Was auf der Bühne geschieht, passiert jetzt im Moment, wer im Publikum sitzt, kann sich dem schwer entziehen und spinnt die verschiedenen Gedankenfäden in Echtzeit selbst weiter.

Eine Performance, die das am auawirleben besonders deutlich machte, war «For Real». Angelegt ist das Ganze als live Radio-Show. In Ausschnitten aus Interviews erzählen 14 Frauen von ihren Erfahrungen mit Sexismus. Dazu spielt das Team um Andrea Voets live Musik, mit Harfe, Flöten, Violine, E-Gitarre, Loopgeräten und einer Menge von Effektpedalen. Dazwischen gibt das Team dem Publikum immer wieder die Möglichkeit, sich selbst interviewen zu lassen und Teil des Podcasts zu werden.

Im Zentrum stehen Denkanstösse statt vermeintlich einfache Lösungen.

Dafür stehen den Freiwilligen aus dem Publikum jeweils vier Fragen zur Auswahl. In diesen Momenten kommt alles zusammen: die Unmittelbarkeit des Moments, die durch die stimmungsvolle Live-Musik unterstützt wird und die Perspektivenvielfalt, die durch die Publikumsbeteiligung einen Raum zur Diskussion öffnet. Verstärkt wird das durch die Anordnung der Bühne. In der Mitte steht der Interviewtisch. Darum herum verteilt ist das Team von Andrea Voets mit ihren Instrumenten und umrahmt wird alles von den sechseckig angeordneten Tribünen. Es entsteht eine Atmosphäre zwischen Lagerfeuer und antikem Rat. Es geht dabei mehr ums Teilen von Erfahrungen und Gedanken denn ums Debattieren. Im Zentrum stehen Denkanstösse statt vermeintlich einfache Lösungen.

(Foto: Petra Nieuwburg)

Was das bewirken kann, zeigt sich, als sich eine Person aus dem Publikum zur vierten Frage interviewen lässt. Diese lautet stets: «Findet etwas, das gesagt wurde, Nachhall bei Ihnen?». Zuvor war einer der 14 Stimmen zu hören, die erzählte, dass Frauen beigebracht werde, ihr Wissen zu verstecken. Männer hingegen würden lernen, stets selbstsicher aufzutreten, auch wenn sie womöglich falsch liegen. Weil Frauen nicht dasselbe beigebracht werde, würden am Ende alle verlieren, so die Stimme. «Nun, vielleicht auch nicht», entgegnet die Person aus dem Publikum. Vielleicht wäre es besser, alle würden lernen, sich zu hinterfragen, vorsichtiger mit ihren Überzeugungen umzugehen und weicher zu sein. Ein wunderschöner Gedanke, der einen neuen Strang anknüpft, entstanden aus der Unmittelbarkeit des Augenblicks. Ein Moment, wie ihn (fast) nur das Theater schaffen kann.

Text: Noah Pilloud