Grundeinkommen: Das Unmögliche möglich machen

von Christoph Reichenau 18. Mai 2016

Jetzt wo das amtliche Stimmmaterial eingetroffen ist, ist zum bedingungslosen Grundeinkommen öffentlich eigentlich schon alles gesagt worden. Trotzdem ein paar Überlegungen zur Initiative, über die wir am 5. Juni 2016 abstimmen.

«Der Bund sorgt für die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens. Das Grundeinkommen soll der ganzen Bevölkerung ein menschenwürdiges Dasein und die Teilnahme am öffentlichen Leben ermöglichen. Das Gesetz regelt insbesondere die Finanzierung und die Höhe des Grundeinkommens.»

Wollen wir diese drei Sätze in die Bundesverfassung schreiben? Der Initiativtext ist einfach. Wie hoch das Grundeinkommen wäre, wie es finanziert werden soll und wer genau darauf Anspruch hätte, müsste vom Parlament und – im Falle eines Referendums über das Gesetz – vom Volk festgelegt werden. Die Initiantinnen und Initianten schlagen im Sinne einer Diskussionsgrundlage vor, dass alle Erwachsenen monatlich 2‘500 Franken und alle Kinder und Jugendlichen 625 Franken Grundeinkommen erhalten. Dies ergäbe eine jährliche Gesamtsumme von 208 Milliarden Franken, verteilt an 6,5 Millionen Erwachsene und 1,5 Millionen Kinder und Jugendliche.

Argumente gegen ein Grundeinkommen

Die Gegnerschaft ist breit. Sie reicht von rechts bis tief ins linke Lager. Zentrale Gegenargumente sind:

– die hohen Kosten und die offene Frage der Finanzierung (der Bundesrat rechnet mit 25 Milliarden Franken Mehraufwand gegenüber den heutigen Kosten der sozialen Sicherheit); 

– das Grundeinkommen würde, etwa bei hoher Pflegebedürftigkeit die Kosten nicht decken;

– die Wirtschaft verlöre könnte Arbeits- und Fachkräfte verlieren, da sich Teilzeitarbeit oder Arbeit im Niedriglohnbereich kaum noch lohnten;

– Arbeitsplätze würden ins Ausland verlagert;

– Schwarzarbeit dürfte zunehmen;

– weil Beschäftigung und Produktion zurückgingen, verlöre der Staat Steuereinnahmen;

– das Grundeinkommen wäre ein Anreiz, in die Schweiz einzuwandern.

Ein wichtiges Argument gegen die Initiative ist, dass die zentrale Bedeutung der Arbeit, die den Menschen Sinn, Struktur, soziale Integration und Würde bietet, abnähme – und damit eine wichtige Grundlage unserer Gesellschaft. Einer der wichtigsten Gründe für die Initiative ist demgegenüber, dass die Erwerbsarbeit schwindet, nicht zuletzt weil aus Kostengründen stets mehr Menschen durch Maschinen ersetzt und insgesamt die Produktivität ständig gesteigert wird.

Sicherheit bieten

Beginnen wir von vorn. Ein Staat ist definiert durch ein Territorium und eine Bevölkerung. Der Bevölkerung, die auf dem Territorium lebt, bietet der Staat Sicherheit und Überleben. Wie er es tut, regelt seine Verfassung; sie bildet das Selbstverständnis der Bevölkerung ab.

Eine Möglichkeit, allen Sicherheit zu bieten, ist das Grundeinkommen. Die Initiative zwingt zu drei Überlegungen:

– Was ist Arbeit, wie soll sie entschädigt werden und von wem?

– Welche Bedürfnisse soll das Grundeinkommen finanzieren, wie hoch soll es sein?

– Wer soll Anspruch auf das Grundeinkommen haben?

Was ist Arbeit?

Arbeit ist alles, was jemand tut; ob aus Not, unter Zwang, zur eigenen Befriedigung, zum Nutzen anderer; ob entgeltlich oder unentgeltlich; ob angeordnet oder freiwillig.

In der Diskussion über das Grundeinkommen wird Arbeit vor allem als entgeltliche Erwerbsarbeit verstanden. Es geht um Arbeit, die jemand verrichtet, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Kein Zweifel: Diese Arbeit kann tief befriedigen und mit grosser innerer Motivation getan werden. Kein Zweifel aber auch: Fast alle Erwerbsarbeit wird in einer Struktur geleistet mit Über- und Unterordnung, mit Sanktionsmöglichkeiten – und unter der Drohung, sie zu verlieren und dann in Not zu geraten.

Dies ist gemeint, wenn man den Sinn der Arbeit betont und ihre strukturierende oder Würde verleihende Wirkung für unabdingbar hält. Ob der Sinn in der Tätigkeit an sich liegt oder auf ihre gesellschaftliche Einschätzung zurückgeht, wird kaum hinterfragt.

Und kaum die Rede ist von der Struktur oder Würde, die andere Arten von Arbeit ebenso erfordern oder bieten. Verlangt etwa die Kinderbetreuung der Mutter oder dem Vater (oder hütenden Tanten, Grosseltern und dergleichen) nicht Disziplin, Einhaltung von Regeln, also «Struktur»? Ist, wer regelmässig betagte oder kranke Angehörige pflegt und versorgt, wirklich strukturlos und frei? Kann man als Freiwilliger im Verein, in der Kirche, im Museum einfach so Termine verpassen und Sitzungen schwänzen? Sogar für den Freizeitausflug mit Freunden ist Pünktlichkeit gefragt.

Ich will damit sagen: Sinn macht jede Arbeit aus sich selbst, ob freiwillig gewählt oder eher unwillig angenommen. Struktur erfordert ebenfalls praktisch jede regelmässige Arbeit, ob entgeltlich oder nicht (Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit, Ausdauer, gelegentliches Überwinden des «inneren Schweinehundes»). Strukturwert und Würde – wie sie bei der Erwerbsarbeit hoch gehalten werden – gelten auch in der Nichterwerbsarbeit. Die ist gesellschaftlich und wirtschaftlich ebenso nötig und wird ganz ohne Durchsetzungszwang ebenso zuverlässig geleistet. Fast gratis.

Nötig ist auch Nichterwerbsarbeit

Wirtschaftlich nötig, die Nichterwerbsarbeit? Selbstverständlich! Marxistisch gedacht: Wie und wo regeneriert sich die Arbeitskraft, wenn nicht im Rahmen, den die Nichterwerbsarbeitenden bieten. Soziologisch gedacht: Wie können Bildung und Kunst funktionieren, wenn nicht grösstenteils durch Nichterwerbsarbeit? Gesellschafts- und staatspolitisch: Beruht nicht unser Zusammenleben auf Grundlagen, die weder der Staat, noch «die Wirtschaft» selber hervorbringen können? Ich folgere: «Die Wirtschaft», «die Erwerbsarbeit» sind nur möglich auf der Grundlage der Nichterwerbsarbeit.

Die Initiative stellt uns vor die Frage, wie lange eine Gesellschaft, die auf der sinnstiftenden Annahme der Erwerbsarbeit beruht, sich halten kann, wenn ihr diese Arbeit für alle ausgeht. Sie stellt uns weiter vor die Frage, weshalb ein Erwerb ausschliesslich mit dieser prekär gewordenen Arbeit möglich sein soll. Sie stellt uns schliesslich vor die Aufgabe, Arbeit neu zu denken, und das heisst: auch an die Entlohnung jener Arbeiten zu denken, die heute scheinbar selbstverständlich gratis geleistet werden (müssen).

Stellt man die Frage so, stehen auf einmal nicht die vom Bundesrat berechneten Kosten für das Grundeinkommen im Fokus, sondern die Frage der Entlohnung dessen, was man Care-Arbeit nennt. Wo kämen wir hin, wenn diese Arbeit – für die Kinder, für die Angehörigen, im Haushalt und in vielen Organisationen – nicht mehr geleistet würde und das vielfältige, weitverzweigte, alle Lebensbereiche  durchdringende System der Freiwilligenarbeit zusammenbräche? Und damit ein guter Teil unserer Lebensqualität und unseres Standortvorteils.

Meine Folgerungen: Die Initiative regt eine wichtige Diskussion an und stellt uns vor zentrale Fragen. Früher oder später müssen wir darauf Antworten finden. Angesichts der grossen Bereitschaft der Menschen, unbezahlte Arbeit zu übernehmen, erscheint die Befürchtung übertrieben, das Grundeinkommen würde den Willen zur Berufsarbeit deutlich schmälern. Das Volksbegehren verrennt sich zum Glück nicht in wohlfeile Rezepte, sondern vertraut für die Umsetzung auf den Gesetzgeber. Den haben wir gewählt.

Welche Bedürfnisse soll das Grundeinkommen finanzieren, wie hoch soll es sein?

Die Initianten gehen – unverbindlich – von monatlich 2‘500 Franken für Erwachsene und 625 Franken für Kinder und Jugendliche aus. Wenn man davon alle Ausgaben bestreiten muss, scheint mir der Betrag für eine Einzelperson recht niedrig, für ein Paar anständig und eine Familie mit Kindern in Ordnung. Das Problem scheinen mir nicht die Beträge im Detail zu sein, sondern die Frage: Welche Ansprüche und Geldleistungen der heutigen sozialen Sicherheit würden dadurch ersetzt (also AHV, IV, Erwerbsersatz, Unfallversicherung, Krankenversicherung, Arbeitslosenversicherung, Fürsorge, aber auch Prämienverbilligungen oder Stipendien usw.).

Diese Frage, für die Umsetzung der Initiative zentral, scheint mir auch ohne Initiative wichtig: Früher oder später müssen die Teilsysteme der sozialen Sicherheit, die sich bis ins Steuersystem hinein auswirken, radikal durchforstet und auf nachvollziehbare Weise aufeinander abgestimmt werden. Nicht um zu sparen, sondern um das Dickicht der historisch gewachsenen, für niemanden mehr vollständig durchschaubaren Regelungen zu vereinfachen. Um die unterschiedlichen Systeme, Verfahren, Zuständigkeiten, Abhängigkeiten zu verschlanken. Gut, wenn diese Herkulesaufgabe nach Annahme der Initiative angepackt werden muss. Nach Ablehnung des Grundeinkommens wird der Durchforstungsbedarf nicht kleiner. Schon nur damit wir das Netz, das uns in schlechten Tagen vor dem Absturz bewahrt, auch als einfache Bürger besser kennen.

Wer soll Anspruch auf das Grundeinkommen haben?

Die ganze Bevölkerung soll Anspruch haben, sagt der Text. Für mich bedeutet dies nicht zwingend alle – zumindest nicht alle in gleicher Höhe. Die Initiative räumt gerade in dieser Frage dem Gesetzgeber einen weiten Spielraum ein. Man darf also seine Vorbehalte gegen eine schematische Gleichheit auch positiv formulieren. Etwa so:

Anspruch auf ein substantielles Grundeinkommen haben sollen m.E. die Menschen, die ihre Initiation ins Erwachsenenleben durchlaufen haben. Die eine Berufsausbildung oder ein Studium abgeschlossen und mindestens drei Jahre beruflich zu wenigstens 50 Prozent gearbeitet und verdient haben. Der Anspruch begänne dann je nach Ausbildungsparcours im Alter von 23 bis 28 Jahren für alle. Wer aus dem Ausland zuwandert, müsste seinerseits mindestens 3 Jahre halbzeitlich in unserem Land erwerbstätig gewesen sein. Wichtig erscheint mir, dass die Aussicht auf ein bedingungsloses Grundeinkommen die Menschen nicht davon abhält, sich eine solide erste Ausbildung anzueignen und erste Erfahrungen in der Berufswelt zu machen. Wer im Leben an diesem Punkt steht, kennt sich und die Welt ein bisschen, kann den Wert des Grundeinkommens einschätzen und sich dafür oder dagegen entscheiden.

Ich weiss, diese Bedingungen sind nicht ohne weiteres zu erfüllen. Viele, die ein Studium abschliessen – die Generation Praktikum – finden oft nur schwer eine ihnen gemässe Erwerbsarbeit. Dies gilt auch für Absolventinnen und Absolventen einer Berufslehre. Gefragt sind also Arbeitsangebote. Und für Zugewanderte die Möglichkeit und ein gewisser Zwang, einen Beruf zu lernen.

Wichtig scheint mir ein zweiter Punkt: Je nachdem, welche der heutigen Sozialleistungen das Grundeinkommen ersetzt, soll jede und jeder darauf verzichten dürfen. Ob dieser Verzicht auf Zeit den Verlust des Geldes nach sich zieht oder ob die nicht bezogenen Beträge gutgeschrieben und später zusätzlich bezogen werden können, ist heute nicht zu entscheiden. Wenn das Grundeinkommen aber die Freiheit der Einzelnen stärken soll, müssen bei der Umsetzung derartige und weitere Fragen gut überlegt werden.

Wie ist es bei den Kindern und Jugendlichen? Da bin ich mir nicht sicher. Die heutigen Zulagen sind zu niedrig. Höher angesetzte Beiträge sollen die realen Kosten decken, dürfen aber kein Anreiz sein, viele Kinder zu haben.

Woher das Geld?

Eine erste Finanzierungsquelle ist klar: Geld fliesst aus jenen Töpfen der sozialen Sicherheit, die dank des Grundeinkommens weniger beansprucht würden; das reicht sicher nicht, vor allem, weil einzelne Sozialleistungen – gerade bei stark pflegebedürftigen Menschen – weiterhin nötig blieben.

Eine zweite Quelle nennen die Initianten: Eine neue Mikrosteuer auf allen Finanztransaktionen; sie täte niemandem weh, weil sie Vermögende minimal belasten würde, ist aber politisch wohl chancenlos.

Eine dritte Quelle besteht in der Erhöhung der Mehrwertsteuer. Sie würde – trotz der vielen Ausnahmen – im Gegensatz zur zweiten Quelle alle gleich treffen, da alle konsumieren.

Warum stimme ich Ja?

Wie wir es drehen und wenden und trotz des gewaltigen Gestaltungsspielraums bei der Umsetzung: Die Initiative wird abgelehnt werden. Mit der Ablehnung wird das Thema wohl für Jahre vom Tisch sein. Ich finde dies schade. Denn dass mit dem bedingungslosen Grundeinkommen ein Lösungsansatz für ein grosses Problem unserer Gesellschaft vorgeschlagen wird, lässt sich nicht bestreiten. Sicher, es braucht grosse Diskussionen aller Kreise der Bevölkerung, den holzschnittartigen Vorschlag zu einem Scherenschnitt zu verfeinern.

Es ist eine Tatsache, dass uns die Erwerbsarbeit ausgeht, die nötige Nichterwerbsarbeit anständiger honoriert werden muss und die Zeit, in der Menschen arbeitsfähig sind, stetig zunimmt. Schon länger kommen auf einen Rentner immer weniger Erwerbstätige. Und schon heute haben dem behaupteten Fachkräftemangel zum Trotz über 50-Jährige abnehmende Chancen, ihre Stelle zu behalten oder eine neue zu finden. Selbst wenn sie sich ständig weiterbilden.

Alle diese und viele weitere Fakten zwingen dazu, die Bedeutung der Arbeit in unserer Gesellschaft in ihrer Funktion für die Existenzsicherung der Menschen neu zu bestimmen. Mit der Initiative gäbe es dafür einen verfassungsmässigen Auftrag. Ohne Initiative besteht die Gefahr, den Kopf in den Sand zu stecken und die Frage zurück zu drängen, weil Antworten schwierig und schmerzhaft sind. Vor dieser Alternative sage ich Ja zu einem offenen Vorschlag, der in Vielem konkretisiert werden muss und – dank seines allgemeinen Textes – konkretisiert werden kann.

Auf die Jungen achten

Als sie etwa 20-jährig war soll Hillary Clinton in einer Rede gesagt haben, Politik sei nicht die Kunst des Möglichen; Politik sei die Kunst, das Unmögliche möglich zu machen. Es ist das Privileg der Jungen, neue Ideen zu lancieren – es geht um ihre Zukunft. Auf das Abstimmungsverhalten der Jungen und der Jüngeren wird deshalb zu achten sein. Ob es zum Ja führt oder nicht.