Grüne ringen um eine Position zum Ukrainekrieg

von Willi Egloff 13. Juni 2022

Unter dem Titel «Der Ukraine-Krieg und die Schweiz» veranstaltete der linke Thinktank Denknetz in Bern eine Podiumsdiskussion. Drei grüne Politiker*innen präsentierten dort erstaunlich unterschiedliche Positionen.

Für den Historiker und grünen Zuger Ex-Nationalrat Jo Lang ist alles klar: Für den Ukrainekrieg ist einzig und allein Putin verantwortlich, der «stalinozaristischen» Grossmachtsträumen anhänge. Seinen Krieg finanziere die Schweiz fleissig mit, indem rund 80% des russischen Erdölhandels über die Schweiz laufe. Auch habe die FdP-Waffenlobby, insbesondere Bundesrat Johann Schneider-Ammann und die damalige Ständerätin Karin Keller-Suter, sich sogar noch nach der Annexion der Krim erfolgreich dafür eingesetzt, dass der Export von Dual-Use-Gütern nach Russland ungehindert weiterlaufen könne. Die aktuelle Diskussion über die Lieferung von Waffen an die Ukraine sei vor allem ein Versuch, von dieser finanziellen Verstrickung abzulenken.

Die grüne Zürcher Nationalrätin Marionna Schlatter wies demgegenüber vor allem auf die Auswirkungen des Krieges auf die nationale Politik hin: Seit Beginn der Frühjahrssession werde nur noch über Aufrüstung gesprochen. Über Klimapolitik, über die Rolle der Schweiz für den Frieden werde nicht mehr diskutiert. Damit könnten die bürgerlichen Parteien die Linke erfolgreich vor sich her treiben, weil deren Themen gar nicht mehr zur Sprache kämen.

Eine dritte Perspektive brachte die ehemalige Grünen-Stadträtin Annemarie Sancar aus Bern ein, welche als Vertreterin der Organisation «FriedensFrauen Weltweit» selbst noch vor kurzem die Ostukraine bereist hatte. Sie wies darauf hin, dass schon vor Beginn der kriegerischen Auseinandersetzungen im Donbass nichts in die soziale Sicherheit der Bevölkerung investiert worden sei. Stattdessen habe sich eine unvorstellbare Militarisierung vollzogen, die zu einer Kultur der Angst und der Gewalt geführt habe. Diese Entwicklung müsse durchbrochen werden, indem endlich auch in den Frieden, in Bildung und soziale Strukturen investiert werde, nicht nur in den Krieg. Gleiches gelte auch für die Schweiz: Nicht Aufrüstung sei das Gebot der Stunde, sondern eine bessere Finanzierung der Care-Arbeit.

Was bringen Sanktionen?

Die unterschiedlichen Sichtweisen zeigten sich auch in der Beurteilung der von der Schweiz beschlossenen Sanktionen. Die von der Diskussionsleiterin, der abtretenden Denknetz-Geschäftsführerin Ruth Daellenbach, gestellte Frage, ob Linke denn Sanktionen unterstützten könnten, die nachweislich zu Hunger in der Welt führten, beantwortete Jo Lang mit einem vorbehaltlosen Ja. Anders sah das wiederum Annemarie Sancar, welche darauf hinwies, dass Sanktionen immer auch Abgrenzungsmechanismen seien. Es spiele eine Rolle, wer von solchen Sanktionen profitiere und wem sie schadeten. So seien beispielsweise Sanktionen nicht zu verantworten, die dazu führten, dass Kranke im Donbass keinen Zugang zu Medikamenten mehr hätten und ihre lebensnotwendigen Krebstherapien nicht mehr weiterführen könnten. Auch könne die Frage nicht losgelöst von der Tatsache diskutiert werden, dass zurzeit weltweit rund 40 Kriege wüteten und dass vielerorts Sanktionen mit verheerenden Auswirkungen auf die Lebenssituation grosser Teile der Bevölkerung verhängt würden.

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Einigkeit bestand hingegen darin, dass der Begriff der Neutralität hier nicht weiterhelfen kann. Neutralität sei ein Kampfbegriff mit unklaren Inhalten, führte Marionna Schlatter dazu aus. Es wäre Aufgabe der Linken, diesen Begriff mit kohärenten Inhalten zu füllen. Annemarie Sancar ergänzte dies mit dem Hinweis, dass insbesondere der Begriff der «konstruktiven Neutralität» von bürgerlicher Seite so interpretiert werde, dass er einem Anschluss an die NATO nicht im Wege stehe. Für Jo Lang ist diese Diskussion vor allem ein Anknüpfungspunkt für die Diskussion über die Stellung der Schweiz zwischen Isolationismus und Universalismus.

Perspektiven für eine linke Politik?

So unterschiedlich die Beurteilungen der aktuellen Situation, so unterschiedlich waren auch die Antworten auf die Frage nach den Prioritäten einer linken Politik angesichts des Krieges in der Ukraine. Annemarie Sancar stellte nüchtern fest, dass in der Ukraine nicht erst seit dem 24. Februar 2022 Krieg herrsche, sondern schon seit 2014. Zur Zeit scheine keine Seite ein Interesse zu haben, diesen Krieg zu stoppen, und angesichts der verhärteten Fronten müsse selbst im Falle eines Waffenstillstands davon ausgegangen werden, dass der Krieg in Form eines Bürgerkriegs weitergehe. Prioritär sei es daher, jetzt schon eine Nachkriegswirtschaft aufzugleisen und dabei eine Sicherheitspolitik für den Alltag zu entwickeln. Bei deren Ausgestaltung müsse endlich auch den Zivilgesellschaften in der Ukraine und in Russland zugehört werden.

Jo Lang sah als politische Priorität die Verhinderung der Aufrüstung in der Schweiz. Instrument dafür sei die kurz vor der Einreichung stehende Stopp-F35-Initiative. Ausserdem gelte es, den Wiederaufbau der Ukraine zu finanzieren. Marionna Schlatter wiederum betonte unsere Verantwortung, kurzfristig die Abhängigkeit von fossilen Rohstoffen zu beenden. Ebenso müsse die Rolle der Schweiz in Europa geklärt werden. Schliesslich rief sie zur Solidarität mit Menschen auf der Flucht auf, und zwar ausdrücklich mit allen Menschen, die in der Schweiz Zuflucht suchen.

Offene Kernfragen

Es war von Anfang an klar, dass von einer solchen Diskussion keine umfassenden Antworten oder Lösungsansätze für die Beurteilung des Kriegsgeschehens in der Ukraine erwartet werden konnten. Trotzdem musste angesichts des Veranstalters, der von seiner Zielsetzung her doch vor allem auch wirtschaftliche Zusammenhänge erörtern will, erstaunen, wie wenig Gewicht ökonomischen Themen eingeräumt wurde.

Schon das Einleitungsvotum von Jo Lang qualifizierte den gesamten Krieg als das Ergebnis einer ideologischen Verirrung eines bösartigen Gewaltherrschers. Aber kann das ganze Desaster wirklich mit dem Hinweis auf einen durchgeknallten Staatspräsidenten erklärt werden?  Wie ist es möglich, dass ein solches Individuum die Wirtschaft einer ganzen Atommacht hinter sich scharen kann? Wie kommt es, dass die von der UNO und von der EU verhängten Sanktionen von einer Mehrzahl der Staaten nicht befolgt werden? Könnte es allenfalls sein, dass es neben der Person Wladimir Putin noch weitere Kreise gibt, die an diesem und an andern Kriegen ein Interesse haben?

Oder wie es Bertolt Brecht in seinen «Fragen eines lesenden Arbeiters» ausdrückte:

«Der junge Alexander eroberte Indien.
Er allein?
Cäsar schlug die Gallier.
Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?»

Eben. Die Frage, wer neben Putin auch noch Interesse an diesem Krieg in der Ukraine hat, wurde leider nicht gestellt. Vielleicht wird sie ja bei einer nächsten Podiumsdiskussion des Denknetzes angegangen. Ihre Beantwortung wäre für einen linken Positionsbezug jedenfalls sehr hilfreich.