Gesiebte Friedhofserde und geklebte Goldfolie

von Monika Bettschen 26. Januar 2013

Das Kunstprojekt Transform setzt sich während mehrerer Wochen mit dem Lauf der Dinge auseinander. Kunstschaffende aus der ganzen Schweiz lassen auf über 1000 Quadratmetern den Charme der Flüchtigkeit spielen.

Schon auf dem Weg zur Güterstrasse 8, beim Anblick der alten Kehrichtverbrennungsanlage, lässt es sich ausgezeichnet über Werden und Vergehen sinnieren. Besagte Adresse, wo sich das Kunstprojekt Transform diesen Winter eingefunden hat, ist eine ehemalige Schokoladenfabrik. Angekommen im zweiten Stock, flutet die Januarsonne die Industrieräume mit ihrem milchigen Licht. Es ist Freitagnachmittag. Die letzten Vorbereitungen laufen, denn in wenigen Stunden beginnt die fünfte von insgesamt zehn Veranstaltungen der aktuellen Ausgabe von Transform, dem interdisziplinären mehrjährigen Kunstprojekt in Bern.

Im weit verzweigten Labyrinth der vielen Räume verirren sich gedämpfte Wortfetzen und Bohrgeräusche. In der Nähe einer grossen Fensterfront hat die Künstlerin Verena Welten Erde vom Friedhof Bremgarten in zwei Durchgängen gesiebt.

«Rund siebzig Kunstschaffende aller Sparten wechseln sich dabei ab, die Fabrikräume ständig zu verändern.»

Monika Bettschen, freie Mitarbeiterin

Einen Teil hat sie auf dem Boden zu einem Haufen aufgeschüttet und daneben die noch feiner gesiebte Erde zu kleinen Fäustlingen gepresst aufeinandergeschichtet. Die beiden bröckelnden Erdwälle erinnern in ihrer morbiden Schönheit an aus Lava geborene Vulkaninseln, die, kaum dass sie die Meeresoberfläche durchbrechen, auch schon dem Zerfall preisgegeben sind.

Und ähnlich wie sich die Sedimente der Erde unaufhaltsam übereinanderschieben, verhält es sich denn auch mit dem Kunstprojekt Transform: Seit Anfang Dezember und noch bis Mitte Februar wechseln sich rund siebzig Kunstschaffende aller Sparten dabei ab, die Fabrikräume ständig zu verändern. In einem wöchentlichen Turnus übernimmt jeweils eine neue Künstlergruppe und erweitert oder überlagert die bereits entstandenen Arbeiten auf ihre Weise. «Interessant ist, dass im Vergleich zum letzten Jahr verstärkt auf bereits existierende künstlerische Eingriffe eingegangen wird», stellt der Kunsthistoriker Franz Krähenbühl fest, der Transform im Jahr 2011 zusammen mit der Regisseurin und Theaterpädagogin Sibylle Heiniger gegründet hat. Neben bildender Kunst umfasst das Programm jeweils freitags auch performative Ansätze, Theater und Musik. Alle Anlässe werden mit einem Wochenprotokoll eröffnet, in dem die mitwirkenden Kunstschaffenden vorgestellt werden. Darauf folgen Darbietungen, Führungen, Konzerte und Barbetrieb.

Laborsituation befreit Kunstschaffende

Mit diesem interdisziplinären Projekt möchten die Veranstalter einen Begegnungsraum anbieten, in dem sich die Kunstschaffenden mit einer breiten Öffentlichkeit austauschen können und umgekehrt. Transform will keine elitäre Kunstveranstaltung sein, sondern alle interessierten Leute ansprechen.

«Transform will keine elitäre Kunstveranstaltung sein.»

Monika Bettschen, freie Mitarbeiterin

Ein ambitioniertes Ziel. Vielleicht sogar zu hoch gesteckt? «Ein Besucher sagte neulich zu mir, dass er ein Kunstbanause sei, sich hier aber sehr wohl und angesprochen fühle. Ich denke also, wir sind auf dem richtigen Weg», findet Sibylle Heiniger. Ein weiteres Ziel sei die Vernetzung der Kunstschaffenden untereinander. «Transform ist durch seinen spartenübergreifenden Ansatz kein klassischer Ausstellungsraum. Man ist in der Kunstbetrachtung oft versucht, das Gezeigte einer bestimmten Kategorie zuzuordnen, doch unser Projekt entzieht sich diesem Mechanismus.»

Den Raum in die Kunst integrieren

Es sind tatsächlich nicht die einzelnen Kategorien, die Transform ausmachen, sondern die fortlaufende Vermischung der Kunstrichtungen zu einem sich wöchentlich verändernden Gesamtkunstwerk. Das Projekt schafft eine Laborsituation, die den Künstlerinnen und Künstlern die Freiheit zum Experiment mit offenem Ausgang lässt. Eine Freiheit, die von den Kunstschaffenden sehr geschätzt werde, da man hier nicht den Druck habe, um jeden Preis ein fertiges Kunstwerk zu schaffen, sagt Franz Krähenbühl. «Es geht uns ja gerade auch darum, den Prozess, die Entstehung von Kunst, erfahrbar zu machen.»

«Es geht uns gerade auch darum, den Prozess, die Entstehung von Kunst, erfahrbar zu machen.»

Franz Krähenbühl, Kunsthistoriker und Mitbegründer des Kunstprojekts

Die Sonne sinkt tiefer und leuchtet eine mit Kerben übersäte Wand an. Auf Augenhöhe beginnt es zu funkeln, denn der Künstler Andreas Marti hat eine der Dellen mit Goldfolie ausgekleidet. Auch die Fotografien von Sabine Hagmann schmiegen sich wie eine zweite Haut an das derbe Mauerwerk. Aus ihrem persönlichen Archiv hat die Künstlerin Bilder ausgewählt, die Eigenheiten des besonderen Ausstellungsortes oder Arbeiten, die in den Wochen zuvor entstanden sind, reflektieren. Kunst und Gemäuer bilden eine Einheit. Es empfiehlt sich, die Ausstellung mehrmals zu besuchen, damit man unterschiedliche Momentaufnahmen miteinander vergleichen, die Veränderungen nachempfinden kann. Ausserdem: Alle Werke, die hier entstehen, werden diese Räume nicht verlassen. «Es ist der Reiz der Flüchtigkeit, der das Projekt sicher auch für ein breites Publikum interessant macht», so Krähenbühl.