Geschieht hier ein «legales Unrecht»?

von Rahel Schaad 26. August 2021

Der Migrationsdienst des Kanton Berns leitet ein Härtefallgesuch eines asylsuchenden Mannes nicht an das Staatssekretariat für Migration weiter, obwohl dieses per Gesetz die «Kann-Kriterien» erfüllt. Der Entscheid ist aber ebenfalls per Gesetz nicht anfechtbar.

Im Februar 2014 floh M. Lokman aus Bangladesch in die Schweiz und beantragte politisches Asyl. Sein Gesuch wurde von den Behörden abgelehnt, Lokman legte gegen den Entscheid Beschwerde ein. Auch die Beschwerde wurde abgewiesen, ebenso das darauffolgende Wiedererwägungsgesuch. Das Staatssekretariat für Migration bemühte sich daraufhin bei der bangladeschischen Botschaft um Reisedokumente von Lokman. Aufgrund eines fehlerhaften Eintrags bei der ersten Erfassung in der Schweiz bereitete jedoch die Identifikation Schwierigkeiten, Dokumente wurden keine ausgestellt und Lokman wurde in der Kollektivunterkunft Sandwürfi in Köniz untergebracht. 2015 stellte Lokman erneut einen Asylantrag. Die gesamte Abfolge von Beschwerde und Wiederwägungsgesuch wiederholte sich ohne Erfolg. Lokman sollte abgewiesen werden. Die Anträge bei der bangladeschischen Botschaft für Lokmans Reisedokumente liefen jedoch ins Leere.

Ein Leben in Bern aufgebaut

Bis im vergangenen Frühjahr: Im März 2021 meldete die bangladeschische Botschaft, dass sie die Person Lokman habe identifizieren können und bereit sei, Ersatzreisedokumente auszustellen. Lokman, der zu dieser Zeit in einer Wohnung in Bern wohnte und vielseitig vernetzt war, wurde darüber informiert, dass er nun auch mit Zwang ausgeschafft werden könnte, wenn er sich nicht bis zum 5. Mai für die freiwillige Rückkehr nach Bangladesch bei der Rückkehrberatung melde.

Lokman lebt zu diesem Zeitpunkt seit sieben Jahren und drei Monaten in Bern, wohnt in der Wohnung eines Freundes, spricht Deutsch auf B2-Niveau, ist festes Mitglied in einem Badmintonclub, hat Zusagen für zwei verschiedene Arbeitsstellen und verfügt über ein enges freundschaftliches Umfeld. Und er fürchtet um sein Leben, wenn er nach Bangladesch zurückgeschafft würde. Mit der Hilfe des Solidaritätsnetzes Bern stellt Lokman ein Härtefallgesuch an den Migrationsdienst des Kanton Berns.

Kanton nimmt Antrag «nicht an die Hand»

In den Bestimmungen des Staatssekretariats für Migration (SEM) steht, dass «asylsuchende Personen auf Antrag des Kantons eine Aufenthaltsbewilligung erhalten können, wenn sie sich seit mindestens fünf Jahren in der Schweiz aufhalten und wegen fortgeschrittener Integration ein schwerwiegender Härtefall vorliegt.» Diese Regelung gelte auch für Personen, deren Asylgesuch rechtskräftig abgelehnt wurde.

Im Falle Lokman kommt es anders: Der Migrationsdienst des Kantons Bern (MIDI) beschliesst, das Härtefallgesuch nicht an das SEM weiterzuleiten. Der Negativentscheid des MIDI, welcher Journal B vorliegt, umfasst zwei Seiten. Nur ein kleiner Abschnitt legt die Begründung des Behördenentscheids dar. Darin wird argumentiert, dass das SEM in der Praxis nur Gesuche bewillige, die eine Aufenthaltsdauer von zehn Jahren nachweisen würden. Da dies bei Lokman nicht der Fall sei, nehme der MIDI den Antrag «nicht an die Hand».

Auf Anfrage erklärt der MIDI, dass bei der Prüfung der Kriterien auch auf die Rechtsprechung des Bundes geachtet werde. Bei dieser gelte «das Kriterium des ‚Aufenthalts von mindestens fünf Jahren‘ bei Einzelpersonen in der Regel erst nach zehn Jahren Aufenthalt als erfüllt.» In der Stellungnahme schreibt die Medienstelle des MIDI ausserdem: «Der MIDI hat kein Interesse, aussichtslose Gesuche, die insbesondere die geltende, höchstrichterliche Praxis zur Mindestaufenthaltsdauer nicht erfüllen, dem SEM zu unterbreiten und damit bloss Administrativaufwand zu verursachen.»

Fehler im System

Das Problematische an diesem Vorgehen: Gegen den Entscheid des SEMs kann rechtlich vorgegangen werden, gegen den Entscheid des Kantons existiert keine Beschwerdemöglichkeit, der Entscheid ist endgültig. Das Bundesgericht hat diese Verfahrenslücke bereits 2010 als verfassungswidrig eingestuft, doch verbessert wird sie seit Jahrzehnten nicht.

Alexandra Büchler, Expertin im Migrationsrecht, arbeitet beim Schweizerischen Kompetenzzentrum für Menschenrechte (SKMR) sowie am Institut für öffentliches Recht der Universität Bern und hat in diesem Jahr zu Härtefällen in der Schweiz publiziert. Sie bezeichnet die fehlende Parteistellung im kantonalen Verfahren zur Erteilung einer asylrechtlichen Härtefallbewilligung als «einen der grossen Fehler im schweizerischen Asylrecht». Dass gegen diese unbefriedigende Situation nicht vorgegangen werde, sei eine politische Frage, sagt Büchler gegenüber Journal B. In der momentanen politischen Situation sei es schwierig, die Rechtslage zu verbessern: «Der Druck kommt vor allem von rechts und fordert eine immer repressivere Praxis im Asylwesen.»

Auch der MIDI sieht den Spielball in der Politik: «Gesetzgeber beim Bund ist die Eidgenössische Bundesversammlung. Das nationale Parlament müsste hier allenfalls Handlungsbedarf erkennen. Diese Gesetzeslücke kann weder das Bundesgericht noch die Verwaltung schliessen.» Der MIDI distanziert sich währenddessen von einer politischen Haltung und sieht seine Aufgabe als Behörde lediglich darin, «seinen gesetzlichen Aufgaben nachzukommen».

Wer entscheidet?

Durch die Unmöglichkeit eines Beschwerdewegs gegenüber eines Negativentscheids der kantonalen Behörde erlangen diese grosses Gewicht. Umso essenzieller scheint die Frage, nach welchem Vorgehen der MIDI mit Härtefallgesuchen umgeht, nach welchen Kriterien diese überprüft werden und wer schliesslich über diese Gesuche entscheidet. Auf entsprechende Fragen von Journal B verweist der MIDI auf ein Betriebshandbuch:

«Der MIDI hat dazu ein Betriebshandbuch. Die Rechtsgrundlagen enthalten lauter unbestimmte Rechtsbegriffe. Die Kriterien im Betriebshandbuch sind mit Praxisreferenzen versehen. Das Betriebshandbuch ist eine interne Weisung und damit nicht öffentlich zugänglich. Unbestimmte Rechtsbegriffe lassen sich nun einmal nicht auf schwarz und weiss reduzieren. Die Behörde macht hier zwangsläufig eine Gratwanderung zwischen dem ihr zustehenden Ermessensspielraum und dessen willkürlicher Überschreitung.»

Christa Ammann von der Alternativen Linke versuchte vor gut einem Jahr mit einem parlamentarischen Vorstoss zum Vorgehen des MIDI bei Härtefallgesuchen mehr Licht ins Dunkel zu bringen. Darin erfragte sie, wer über die Härtefallgesuche entscheide und wie die entsprechenden Personen in die Position gewählt würden. Die Antwort des Regierungsrates lautete: «Die amtsintern als ‘Härtefallkommission’ bezeichnete Gruppe setzt sich aus entscheidberechtigten Mitarbeitenden mit entsprechendem Fachwissen zusammen.» Es sei deshalb immer eine Gruppe von Mitarbeitenden, die über ein Härtefallgesuch berate und entscheide. Über das Auswahlverfahren der Mitarbeitenden gab der Regierungsrat nichts bekannt.

Unverständnis und Angst

Während sich die Behörde als treue Auftragserfüllerin des Gesetzgebers sieht, stösst der Negativentscheid des MIDI bei den Freund*innen von Lokman auf Unverständnis. Dreissig von ihnen hatten persönliche Briefe geschrieben, welche die Einbindung und Bedeutung Lokmans in ihrem Umfeld berührend aufzeigen. Weitere einundzwanzig Menschen haben individuelle Solidaritätsbekundungen verfasst, alle waren im vierzehnseitigen Härtefallgesuch, welches Journal B vorliegt, dokumentiert. «Es kann nicht sein, dass über einen Menschen in begründeter Notsituation durch solch unverständliche Argumentation des MIDI entschieden wird», spricht Markus Tröhler, ein enger Freund Lokmans, das eigene Gefühl der Ohnmacht gegenüber der behördlichen Maschinerie an. Hans Peter Wenger, Leiter der Deutschschule Morillon und Lehrer von Lokman sagt: «Ich frage mich wirklich, ob hier ein legalisiertes Unrecht geschieht.»

Lokman sitzt derzeit im Ausschaffungsgefängnis in Moutier. Er kann zweimal in der Woche eine Stunde lang Besuch empfangen. Täglich bangt er darum, nicht zurückgeschafft zu werden. Vor Kurzem wurde Lokman in Handschellen im Gefängniszug an den Flughafen Zürich gefahren. Es war einer von vielen Versuchen, Lokman zu einer freiwilligen Rückkehr zu drängen. Zuvor wurde ihm bereits eine höhere Rückkehrsumme versprochen. Doch für Lokman ist klar: Er wird nicht freiwillig nach Bangladesch zurückkehren, zu gross sei die Gefahr vor der polizeilichen Verfolgung.

Druck auf die Politik

Die Freund*innen und Unterstützer*innen von Lokman bangen mit ihm. Auch für sie ist die Ungewissheit, was mit Lokman passieren wird, schwer erträglich. Als letztes Mittel bleibt ihnen noch der Weg in die Öffentlichkeit. «Wir hoffen, dass wir durch die öffentliche Aufmerksamkeit Druck auf die Politik und die Behörden ausüben können», so Hans Peter Wenger. «Und wenn wir für Lokman nichts mehr machen können, so müssen wir dies für alle anderen Menschen tun, die dieser Praxis des MIDI und des SEMs ausgeliefert werden. In der Politik muss sich was ändern.»