Fünf Gehminuten von der S-Bahn-Station Urtenen entfernt, steht ein ehemaliges Bauernhaus. An einer der Eingangstüren sind acht Klingeln angebracht. Ich beginne nach «Wüthrich» zu suchen. Noch bevor ich klingeln kann, steht Raffael schon in der Tür und begrüsst mich. Seit über einem Jahr lebt er in dem eindrücklichen Haus, welches über acht Wohneinheiten und zwei grosse Gemeinschaftsräume verfügt. Wir gehen hoch in den zweiten Stock, wo sich die kleine Wohnung seiner Familie befindet und setzen uns an den Tisch. «Insgesamt wohnen 21 Erwachsene und acht Kinder in diesem Haus», erzählt er mir.
Genossenschaftliches Wohnen und gemeinsame Ökonomie
Das Haus gehört der Genossenschaft «Solidarisch Wohnen – SoWo», in welcher alle Bewohner*innen des Hauses Mitglied sind. Für jede Wohnung wird eine Miete bezahlt. Nichts Ungewöhnliches, wenn man genossenschaftlich wohnt. Was hier aber speziell ist, ist das neun von den insgesamt 21 Personen in «gemeinsamer Ökonomie» leben. Raffael ist einer dieser neun Menschen. «Alles was wir verdienen, fliesst auf ein gemeinsames Konto. Von diesem werden alle Ausgaben, wie beispielsweise Ferien, Essen oder Miete, beglichen.» Ebenfalls werde gemeinsam gespart und wer das Bedürfnis nach einer dritten Säule habe, könne sich vom gemeinsamen Konto eine finanzieren. Das tönt für viele erstmal etwas furchteinflössend. Doch er sieht es nicht so. «Grundsätzlich ändert sich eigentlich gar nicht viel. Man hat immer noch ein Konto, E-Banking und Kärtchen, mit welchen man zahlen kann.» Ein Unterschied sei, dass man die Übersicht über die einzelnen Zahlungen und Gutschriften verliere. «Das ist aber auch ganz gut so, so gewinnt man Abstand zum Geld. Man wird vom Einzelkämpfer zum wirtschaftlichen Kollektiv, das gibt Freiheit und eine Sicherheit, die mit Geld nicht zu gewinnen ist.»
Regeln und Schwierigkeiten
Damit das Ganze funktioniert, gibt es einige wenige Regeln. Eine besagt, dass Bedürfnisse einer Person, welche 400 Franken übersteigen, im Kollektiv angemeldet werden müssen. Raffael betont aber, dass Bedürfnisse nicht verhandelt werden, eine andere wichtige Regel. Die Aussprache diene dazu, das Budget besser im Griff zu haben und um das gemeinschaftliche Netzwerk zu aktivieren. So mussten auch schon grössere Anschaffungen wie Laptops nicht gekauft werden, weil jemand aus der Gruppe bei einem Bekannten Laptops organisieren konnte. Zusätzlich hinterfrage aber jeder sein Konsumverhalten mehr, wenn er es in die Gruppe einbringen muss. «Wir sind eine konsumkritische Gruppe. Ich finde es wertvoll, dass die gemeinsame Ökonomie die Selbstreflexion über meinen Konsum ankurbelt», betont er.
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Ob er denn nicht Angst habe, dass einer aus der Gemeinschaft mitsamt dem ganzen Geld einfach abhauen würde, oder ob er sich nicht ausgenützt fühle, werde er häufig gefragt. Die Schwierigkeit bei der gemeinsamen Ökonomie sei aber an einem anderen Ort zu suchen. Denn wenn eine Person über kurz oder lang weniger Geld einbringe als andere, könne das bei ihr dazu führen, dass das schlechte Gewissen überhandnehme und er oder sie seine Bedürfnisse nicht mehr einbringe. Diese Gefühle nicht aufkommen zu lassen, sei ein ständiger Prozess. «Mal gelingt es gut, mal weniger.»
Alltag
Angefangen haben sie mit der gemeinsamen Ökonomie 2016 in Habstetten, oberhalb von Bolligen. Damals wohnten sie zu neunt als Wohngemeinschaft in einem alten Herrenhaus, in welchem sie eine gemeinsame Küche und jeweils einzelne Zimmer bewohnten. «Damals haben wir den Alltag sehr stark miteinander geteilt, das hat sich mittlerweile durch die Familien und die Wohnsituation etwas geändert», erklärt Raffael. Der Unterschied zwischen der gemeinsamen Ökonomie und den anderen Bewohnern des Hauses sei, dass die Miete für die neun Personen von einem einzigen Konto bezahlt werde. Der Alltag aber, spiele sich innerhalb der Gemeinschaft und nicht innerhalb der gemeinsamen Ökonomie ab.
Für Raffael unterscheidet sich der Alltag in dieser Wohngenossenschaft nicht gross vom Alltag von anderen Menschen. «Wir alle haben einen Job, manche eine Familie.» Allerdings gibt es schon kleine Besonderheiten. So gibt es beispielsweise in einigen Wohnungen zwei Eingangstüren. Eine führt ins Treppenhaus, die andere direkt in eine weitere Wohnung. Zudem spielt das gemeinsame Essen eine grosse Rolle. «Am Abend wird für alle gekocht und gemeinsam gegessen», erläutert er. Manchmal sei das aber einfach zu viel: «Wer ein wenig mehr Ruhe braucht, nimmt sich das Essen in die Wohneinheit mit.» Gekocht wird in einer professionellen Küche im Erdgeschoss, welche es wohl mit vielen Restaurantküchen aufnehmen könnte. Das Kochen wird fliessend per Web-App organisiert, es gibt keine fixen Tage, an denen immer die gleiche Person am Herd steht. «Es findet sich eigentlich immer jemand, der kocht», sagt Raffael. «Was eher ein wenig das Problem ist, ist das Abwaschen», fügt er schmunzelnd hinzu.
Was ebenfalls speziell ist, ist das Einkaufen. Die Genossenschaft hat einen eigenen Bio-Laden auf dem Gelände. Die einzelnen Parteien können über einen Webshop aus 10’000 verschiedenen Produkten auswählen. Eine Arbeitsgruppe koordiniert die Bestellungen für die ganze Gemeinschaft, welche jeweils montags per Lastwagen angeliefert werden und anschliessend im Lädeli abgeholt werden können. Zusätzlich erhalten sie Gemüse von einem Biobauern aus der Umgebung und kultivieren im eigenen Garten Gemüse. Einkaufen muss Raffael deshalb nur noch, wenn er etwas sehr Spezifisches haben möchte.
Motive und Zukunftsvisionen
Was sind Raffaels Motive für die gemeinsame Ökonomie? Einerseits sei da die Stärke eines Kollektivs. So ermöglichen sie sich gegenseitig ein Grundeinkommen und gestehen sich so gegenseitig ein Existenzrecht zu, welches nicht abhängig ist vom ökonomischen Verdienst. Miteinander das Geld zu teilen bewirkt, dass die einzelnen Personen automatisch sozialer und gemeinschaftlicher zu denken beginnen. Auf der anderen Seite sieht er die gemeinsame Ökonomie aber auch als Kritik am Kapitalismus und der daraus resultierenden ungerechten Verteilung von Einkommen und Vermögen. Für Raffael ist klar, dass diese gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten eigentlich keine Berechtigung haben. «In gemeinsamer Ökonomie zu leben, ist etwas vom revolutionärsten, was man in diesem System tun kann», resümiert er.
Entsprechend gross sind seine Visionen: Er träume von einem Dorf, in dem alle Menschen zusammen eine gemeinsame Ökonomie betreiben würden. «Stell dir mal die ökonomische Power dieser Gemeinschaft vor», sagt er begeistert. Wenn ganz viele solche Gemeinschaften in der Schweiz entstehen und sich zusammenschliessen würden, sieht Raffael darin gar eine Alternative zum Kapitalismus. «Im Vergleich zu vielen alternativen Modellen zur Überwindung des Kapitalismus, sehe ich bei der gemeinsamen Ökonomie viel Konkretes und jetzt Umsetzbares. Wer will, kann sich dieser persönlichen und kollektiven Herausforderung stellen und Geld in seinem Leben ein bisschen weniger wichtig machen. Das lohnt sich.»