Die Bilder vom 22. Januar 2022 stellen für viele eine Zäsur dar: Eine Demonstration von rund 2000 Personen schreitet angeführt von der «Jungen Tat» und anderen szenebekannten Neonazis durch Bern. Anlass dazu boten die Proteste gegen die Covid-Massnahmen des Bundes.
Obwohl die Neonazis den Behörden bekannt sind, schritt die Polizei nicht ein und besprach gar die Route der Demonstration mit ihnen. Es war das erste Mal seit langem, dass offen Rechtsextreme derart unbehelligt durch die Bundesstadt laufen konnten. Dass sie eine Demonstration mit so vielen Teilnehmenden anführten, ereignete sich womöglich gar zum ersten Mal.
War die Kantonspolizei vorbereitet?
Aus dem Nichts geschah dies freilich nicht. Mitglieder von Neonazi-Netzwerken waren schon früh Teil der Massnahmenproteste. In Österreich und Deutschland hatten sie sich bereits in den Wochen zuvor an die Spitze der Demonstrationen gesetzt, eine ähnliche Entwicklung war auch in der Schweiz zu erwarten.
Vor diesem Hintergrund wollte die SP/Juso-Fraktion des Stadtrats vom Gemeinderat wissen, welcher Auftrag der Kantonspolizei für die Demonstration erteilt wurde. In der kleinen Anfrage stellen die Unterzeichnenden zudem die Frage, ob dieser Auftrag im Sinne des Gemeinderats ausgeführt wurde und welche Anweisungen dieser der Kantonspolizei generell für den Umgang mit Demonstrationen, an denen rechtsextreme Gruppierungen federführend beteiligt sind, erteilt.
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Für die SP/Juso-Fraktion wirft das Nichteinschreiten der Polizei auch deshalb Fragen auf, weil in der Vergangenheit friedliche Demonstrationen linker Gruppierungen gewaltsam aufgelöst wurden. Sollte die Kantonspolizei Bern bei Demos von Rechtsextremen der SP zufolge also dieselbe Härte an den Tag legen? «Es geht uns nicht um eine Forderung nach mehr Repression, sondern darum, die Gründe für diese Ungleichbehandlung zu erfahren», stellt Valentina Achermann klar. Die SP-Stadträtin hat die kleine Anfrage gemeinsam mit ihren Parteikolleg*innen Michael Sutter und Alina Murano eingereicht.
Neonazis werden nicht explizit erwähnt
In seiner Antwort stellt sich der Gemeinderat auf den Standpunkt, die Situation sei neu und überraschend gewesen, entsprechend habe es keine Anweisungen an die Kantonspolizei gegeben. «Wie bei Kundgebungen üblich erteilt der Gemeinderat keine generellen Anweisungen», heisst es in der Antwort weiter, die Polizei schreite bei Sachbeschädigungen und strafbaren Handlungen im Rahmen der Verhältnismässigkeit ein. Abschliessend hält der Gemeinderat fest, dass er «die Sorge um wachsende demokratiefeindliche Entwicklungen und Tendenzen», teile.
Für diese Haltung äussert die Stadträtin Valentina Achermann im Gespräch mit Journal B Unverständnis: «Wenn man die Lage in den Nachbarländern beobachtet hat, ist es schlicht unglaubwürdig, dass der Gemeinderat von der Entwicklung überrascht war.» Dass sich die Stadtberner Regierung in ihrer Antwort nicht explizit gegen Rechtsextremismus positioniere, sei zudem beschämend. «Damit hat der Gemeinderat eine Chance vertan», meint Achermann.
Wie bei kleinen Anfragen üblich, wurde über die Antwort des Gemeinderats in der heutigen Stadtratssitzung nicht mehr debattiert. Was nun genau daraus folgen wird, ist noch unklar. Achermann kann sich jedoch vorstellen, den genauen Handlungsspielraum des Gemeinderats noch weiter abklären zu lassen.