Gegen Entstaatlichung, Krieg und Hungertod

von Redaktion Journal B 7. September 2015

Auf dem Podium der Zimmerwald-Tagung sass mit Gregor Gysi einer der prominentesten linken Politiker Deutschlands. Hier sein Statement zur Frage nach den friedenspolitischen Perspektiven der Linken.

Das Podiumsgespräch der Zimmerwald-Tagung im Volkshaus Bern stand am 5. September unter dem Titel «Die Internationale Bewegung der Arbeiter und Arbeiterinnen für den Frieden, heute und morgen». TeilnehmerInnen waren Beatriz Talegon aus Spanien, Kirill Buketow aus Russland, Jean-Pierre Brard aus Frankreich, SPS-Parteipräsident Christian Levrat und Gregor Gysi aus Deutschland. Letzterer hat, nach den Perspektiven der Bewegung gefragt, folgendes Statement abgegeben:

«Seit dem Ende des Kalten Krieges gibt es die Struktur nicht mehr, die es vorher gab. Vorher hatten wir die Einflusssphäre Sowjetunion, die Einflusssphäre USA und die blockfreien Staaten. Alles war angebunden. Ein Bin Laden wäre niemals eine freischwebende Kraft geworden. Er wäre entweder beim amerikanischen oder beim sowjetischen Geheimdienst angebunden gewesen. Und wenn er ausgerastet wäre, dann hätte er im einen wie im anderen Fall einen Unfall gehabt. Unterdessen gibt viele freischwebende Kräfte.

Die USA gingen ja immer nach dem Motto vor: Hab ich den gleichen Feind, dann ist derjenige mein Freund. Deshalb haben sie Al Kaida bezahlt, was ein riesiges Problem wurde. Danach haben sie alle Rebellen gegen Assad bezahlt, damit auch den Islamischen Staat, was wieder ein riesiges Problem wurde. Andere Geheimdienste denken genau so schlau: Der Mossad hat die Hamas erfunden, um eine Konkurrenz zur PLO zu haben und hat damit schwer in den Glückstopf gegriffen. Immer diese Art der Politik setzt sich fort.

«Wir haben heute kein Primat der Politik mehr. Die Bankenchefs entscheiden, was die Politik macht – und nicht etwa die Politik, was die Banken machen.»

Gregor Gysi

Aus dem Publikum wurde die wichtige Frage nach den Alternativen zur jetzigen Wirtschaftsordnung gestellt. Es ist heute ja schon mehrfach gesagt worden, dass wir gerechter verteilen würden. Das stimmt. Das glauben uns die Leute sogar. So gesehen müssten wir aber viel grössere Wählerpotentiale haben. Warum haben wir die nicht? Weil die Leute uns keine Wirtschaft zutrauen. Das ist der Punkt. Die Leute denken, dass wir den Mangel gerechter verteilen würden. Alle praktischen Fälle von Staatssozialismus waren Ausdruck einer Mangelwirtschaft. Davor haben die Leute Angst. Dass wir gerechter verteilen, ist klar, und wir müssen das auch betonen. Aber wir müssen auch sagen, wie wir eine funktionierende Wirtschaft zustande bringen, wie die aussehen soll.

Ich weiss, wie das ist, wenn man nur Staatsbetriebe hat; und ich weiss, wie es ist, wenn man nur private Konzerne und private Banken hat: eine Katastrophe! Darum sage ich: Wir müssen die grossen Konzerne und die grossen Banken erstens verkleinern und zweitens die Banken öffentlich-rechtlich gestalten. Sie dürfen nicht privat bleiben. Sie sind viel zu mächtig. Wir haben heute kein Primat der Politik mehr. Die Bankenchefs entscheiden, was die Politik macht – und nicht etwa die Politik, was die Banken machen. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass wir nur dann das Primat der Politik neu schaffen können, wenn wir etwas machen, was uns gelegentlich schwer fällt: Wir brauchen ein Bündnis mit dem Mittelstand. Weil der Mittelstand steht auch unter dem Druck der grossen Konzerne und der grossen Banken. Wenn wir dieses Bündnis nicht hinkriegen, schaffen wir es nie. Dann sind wir einfach zu schwach.

«Wie überzeugen wir die Arbeiter und Arbeiterinnen, dass wir eine Wirtschaft schaffen können, die gleichzeitig ökologisch nachhaltig und sozial gerecht sein wird?»

Gregor Gysi

Und wie überzeugen wir die Arbeiterinnen und Arbeiter, dass wir eine Wirtschaft schaffen können, die gleichzeitig ökologisch nachhaltig und sozial gerecht sein wird? Da müssen wir uns noch viele Antworten einfallen lassen, damit wir in der Bevölkerung eine grössere Zustimmung erhalten.

Das nächste, was ich sagen will: Was erleben wir jetzt? Wir erleben eine Entstaatlichung, wie es sie bisher noch nie gegeben hat. Ob ich Syrien nehme, ob ich Irak nehme, ob ich Libyen nehme, ob ich Jemen nehme, ob ich den Sudan nehme: Es funktioniert keiner dieser Staaten. Ein Ergebnis der Kriege gegen Irak, gegen Libyen und andere war Entstaatlichung. Das ist aber eine Katastrophe, weil so nur noch freischwebende Kräfte agieren. Es wird ohne Konsequenzen getötet, weil es keine funktionierende Polizei und keine funktionierende Justiz mehr gibt.

Ich frage mich: Geht diese Entwicklung weiter oder wird sie gestoppt? Wenn nicht, ist das Nächste weitere Kriege. Tatsächlich werden Kriege täglich selbstverständlicher. Saudi-Arabien bombardiert den Jemen, weil das Land da ein Interesse hat; andere bombardieren Syrien, weil sie da ein Interesse haben; die Türkei, NATO-Partnerin, bombardiert die Kurdinnen und Kurden, und da regt sich auch kaum mehr einer darüber auf. Krieg wird immer alltäglicher, mit verheerenden Folgen, weil in das Denken der Menschen immer mehr eindringt, Krieg sei etwas Normales.

«Wie lösen wir das Flüchtlingsproblem mittelfristig und langfristig so, dass die Fluchtursachen verschwinden?»

Gregor Gysi

Letzter Punkt: Hungertod. Jährlich sterben auf der Erde 70 Millionen Menschen. Davon 18 Millionen an Hunger. Und das, obschon wir weltweit eine Landwirtschaft haben, die die Menschheit zweimal ernähren könnte. Erklär das mal! Warum ist der Profit einzelner Konzerne wichtiger als die Verhinderung des Hungertodes? Was machen wir eigentlich dagegen?

Bei der ganzen Flüchtlingsproblematik höre ich zur Zeit bloss: Schnellere Verfahren! Höhere Zäune! Es geht also bloss darum, wie man verhindert, dass die Menschen kommen. Aber nicht: Wie lösen wir die Probleme mittelfristig und langfristig so, dass die Fluchtursachen verschwinden?

Gehen die Entstaatlichungen weiter, werden die Kriege häufiger und der Hungertod auch. Aber bereits jetzt sind gewaltige Probleme mit Flüchtlingen entstanden. Die Staaten hier merken zum ersten Mal: Wenn wir nicht anfangen, die Welt-Probleme zu lösen, dann kommen sie täglich verschärfter zu uns. Und zwar bis der Tag kommt, wo sie unbeherrschbar werden.

Ob die Lösungsvorschläge der linke Bewegung einen Beitrag sind… keine Ahnung. Es kann auch alles ganz nach rechts gehen. Es gibt ja im Augenblick diese Tendenz in Frankreich, von Ungarn gar nicht zu reden. Und auch in Bezug auf Griechenland wird das unterschätzt: Alle sehen die Stärke von Syriza, aber nicht, dass die rechtsextremen Parteien dort auch stärker werden. Das macht die Situation so schwierig.

Trotzdem: Es gibt immer Chancen, und die Linke muss an diesen Chancen arbeiten. Dazu gehört, dass wir uns nicht so sehr als Parteien verstehen – das ist zwar auch wichtig, Parteien braucht man ja, um einen organisatorischen Zusammenhalt zu haben –, sondern dass wir Teil einer Bewegung werden. Und zwar Teil einer Bewegung, die sich gegen Krieg und gegen den Hungertod stellt, die Fluchtursachen bekämpfen will, die die Entstaatlichung bekämpfen will und die für eine neue Form der Gleichberechtigung eintritt.

Und wenn wir es dann auch noch schaffen, den Leuten zu erklären, dass wir in der Lage sind, eine funktionierende Wirtschaft aufzubauen, dann werden wir ganz gute Chancen haben.»