Der «Breitschträff» ist bis zum letzten Platz voll besetzt an diesem Sonntagnachmittag. Einige haben keinen Sitzplatz mehr erhalten und stehen deshalb auf der Seite und hören gebannt zu, was die Leute auf der Bühne erzählen. Fast könnte man vergessen, dass es sich um eine Pressekonferenz handelt. Nur die Personen, die aufgereiht an einem langen Tisch auf der Bühne sitzen, geben das typische Pressekonferenz-Bild ab. Denn auch Medienschaffende sind beinahe keine im Publikum.
Dabei ist das, was in an jenem Sonntagnachmittag in einem Berner Quartiertreffpunkt verhandelt wird, von nationalem Interesse. Zur Pressekonferenz hat die Gruppe «Stop Dublin Greece» geladen. Unter diesem Namen haben sich 42 Geflüchtete aus der Türkei zusammengetan, die sich gegen ihre drohende Ausschaffung nach Griechenland im Rahmen der Dublin-Verfahren wehren.
Die meisten der Leute, die der Pressekonferenz beiwohnen, stammen aus der türkischen und kurdischen Community in der Schweiz. Sie sind entweder selbst von einer drohenden Dublin-Ausschaffung betroffen oder zeigen sich mit den Betroffenen solidarisch.
Die Fälle von Folter und Missbrauch in Griechenland zeigen deutlich, dass Zwangsausweisungen ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen
Ihnen allen machen die Bedingungen, die Asylsuchende in Griechenland erwarten, Sorgen. «Flüchtlinge, die nach Griechenland gelangen, sind dort systematischen Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt», heisst es in einem schreiben, dass die Gruppe «Stop Dublin Greece» an der Pressekonferenz verliest. Die Geflüchteten fordern deshalb, dass die Schweiz Ausschaffungen nach Griechenland sofort stoppt.
Die Geflüchteten berufen sich dabei unter anderem auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) aus dem Jahr 2011. Im Urteil ist die Rede von juristischen Schwächen bei den Asylverfahren und unzureichenden Unterbringungsbedingungen.
Die Kritik hat nicht abgenommen
Tatsächlich verzichtete das Staatssekretariat für Migration (SEM, damals noch BFM) ab 2011 auf Dublin-Ausschaffungen nach Griechenland. «Das BFM verzichtet bis auf Weiteres mehrheitlich auf Dublin-Verfahren mit Griechenland und prüft entsprechende Asylgesuche selbst», hiess es damals in einer Medienmitteilung.
Was hat sich also seither geändert? «In Übereinstimmung mit den Empfehlungen der Europäischen Kommission, Griechenland mittelfristig wieder ins Dublin-System einzugliedern, hat auch die Schweiz Dublin-Verfahren vorerst auf einem tiefen Niveau für nicht vulnerable Einzelpersonen wieder aufgenommen», schreibt das SEM dazu auf Anfrage. Dafür muss Griechenland gemäss SEM jeweils zusichern, dass die Personen Zugang zum Asylverfahren und zu einer Aufnahmeeinrichtung haben. Im vergangenen Jahr hat es jedoch noch keine Dublin-Ausschaffung nach Griechenland gegeben, gibt das Staatssekretariat an.
Die Schweiz lässt sich von Griechenland vor der Ausschaffung also garantieren, dass es die Bedingungen einhält. Die Kritik an den Zuständen in Griechenland hat indes nicht abgenommen. So hat der EGMR das Land mehrfach wegen Verletzung des Folterverbots der europäischen Menschenrechtskonvention verurteilt. Ausserdem hat die europäische Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Griechenland eingeleitet, weil Griechenland seinen Verpflichtungen aus dem EU-Recht nicht nachgekommen sei.
Die Abschiebungen nach Griechenland sind kein Missverständnis, sondern ein bewusster, politischer Entscheid
Für die betroffenen Geflüchteten in der Schweiz und ihre Mitstreiter*innen ist das ein klarer Grund dafür, dass die Behörden die Dublin-Ausschaffungen nach Griechenland stoppen sollen. So sagte Özgür Türk vom Pangea Kolektif an der Medienkonferenz: «Die Fälle von Folter und Missbrauch in Griechenland zeigen deutlich, dass Zwangsausweisungen ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen.» Das Pangea Kolektif ist eine von türkisch- und kurdischsprachigen Geflüchteten gegründete Initiative zur Selbstorganisation von Migrant*innen. Die Gruppe unterstützt «Stop Dublin Greece».
Die Beschwerden sind noch hängig
Auf die zahlreichen Menschenrechtsverletzungen angesprochen, verweist das SEM darauf, dass es vor der Verfügung einer Wegweisung nach Griechenland eine Einzelfallprüfung durchführe. Ausserdem habe die Europäische Kommission ihre Empfehlung nicht zurückgenommen, so das SEM.
Für das Migrant Solidarity Network, das «Stop Dublin Greece» ebenfalls unterstützt, nimmt das SEM mit der Praxisänderung die Menschenrechtsverletzungen sehenden Auges in Kauf. So verwies Philippe Blanc an der Medienkonferenz darauf, dass die Probleme im griechischen Asylsystem bekannt seien. «Die Abschiebungen nach Griechenland sind kein Missverständnis, sondern ein bewusster, politischer Entscheid», schlussfolgerte er.
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Derweil verweist das Staatsekretariat für Migration auf den Rechtsweg: «Ein Nichteintretensentscheid Dublin kann beim Bundesverwaltungsgericht angefochten werden.» Genau das haben die Betroffenen der Gruppe «Stop Dublin Greece» getan, wie ihrer Medienmitteilung zu entnehmen ist. Allerdings, so heisst es weiter, warten die Betroffenen seit Langem auf einen Entscheid: «Seit etwa acht Monaten ist kein Entscheid mehr gefallen.»
Gibt das Bundesverwaltungsgericht den Beschwerdeführenden recht, so könnte dieser Entscheid richtungsweisenden Charakter für die zukünftige Praxis bei Dublin-Verfahren mit Griechenland haben. Weist das Gericht die Beschwerde hingegen ab, ist damit zu rechnen, dass sich die Betroffenen der Gruppe «Stop Dublin Greece» weiter gegen die Abschiebung nach Griechenland wehren werden.