Am Bierhübeli klafft ein Loch. Die Aussicht ist buchstäblich hinreissend. Zur Lorraine hinüber braucht es keine Velobrücke mehr, mit einem Schritt scheint man hinüberzugelangen. Und die Pracht der Alpen! Nackt stehen sie da, der Schleier aus feinverzweigten Baumwipfeln ist weggezogen.
Man gewöhnt sich. ‚Plötzlich diese Übersicht‘ ist irgendwie auch grossartig.
Noch sind die Maschinen leise am Werk, die Luft atembar. Doch das Massaker ist bei den Anwohnern nicht vergessen. Wer nicht irgendwo Sommerferien genoss, erlebte die Niedermachung des gesamten Bestandes des Hirschenparks innert weniger Tage, von den alten Baumriesen bis aufs letzte Sträuchlein am Strassenrand. Ein Schock. Und keine Menschenkette war zur Stelle, um wenigstens symbolisch zu protestieren.
Zugegeben, der ‚Park‘ war ja kein einladender Aufenthaltsort. Aber aus ihm quollen Wolken erfrischenden Grüns empor, in dem es lebte und rauschte und im Frühling blühte. Wohnort nicht nur der aufsässigen Krähen, sondern auch der Singvögel, des Käuzleins und der Fledermäuse. Eine Wohltat für die Passanten der verkehrsreichen Kreuzung.
Beim Künstler im Atelier
Am Dreikönigstag fahren wir nach Utzenstorf ins Drechsleratelier von André Müller. Ihm sind einige der gefällten Bäume in die Hände gefallen – dank der Vermittlung von Peter Kuhn, der bei Stadtgrün Bern für den Baumschutz zuständig ist. Zum Glück, denn sonst wären alle, auch die Hundertjährigen, im Nu zerhackt und gehäckselt worden. Nun gibt es doch für den einen oder anderen Aufrechten, der an der Front vorrückender Bagger gefallen ist, ein Weiterleben in verwandelter Form.
Aendu, so nennt sich der Künstler, führt uns zuerst auf ein Industrieareal, wo ein Stück der gewaltigen Platane ruht, an deren moosigem Fuss ich im Frühling noch Schlüsselblumen und Anemonen gepflückt hatte. Anders als die Ahorne, die sofort verarbeitet werden mussten, darf sie noch etwas ruhen, freilich nicht mehr allzu lange, sonst verliert auch sie an Qualität. Wir gehen andächtig um den Stammtorso herum, merken, mit welchem Augengespür der Experte das Innenleben des Baumes erraten kann, wie er die Ausbuchtungen der Rinde, die «schlafenden Knospen», die Wunden und Astabbrüche in Augenschein nimmt. Später wird er entscheiden, in welchem Winkel er den Schnitt mit der Motorsäge durch den Stamm ziehen will. Er weiss, dass im Holz Zeichnungen und Färbungen verborgen sind, die weit komplexer sind als die Jahrringe, von denen auch wir Laien eine Vorstellung haben.
Die Drechslermaschine, die aendu vor dem Verschrotten gerettet hat, ist ein mächtiges Ding – damit dreht man keine Pfeffermühlen, Schälchen oder Knöpfe, sondern XXL-Objekte. Wenn er sie bedient, rund um sie herumgeht oder auf ihr rittlings sitzend Stellung bezieht, leuchtet es ein, dass dieser Mann noch schwerere Maschinen zu lenken versteht: er ist von Beruf Lokomotivführer. Diese Tätigkeit übrigens hat ihn auf die Bäume gebracht: beste Sicht vom Führerstand aus auf die vielen umgefallenen Stämme in den Wäldern links und rechts der Geleise.
Eine Gefäss entsteht
Aendu hat für uns ein Stück Kastanie aus dem Hirschenpark eingespannt. Die Rohform ist schon sichtbar. Der Motor läuft, das helle Stück dreht sich rasend schnell und der Künstler legt das Messer an, führt es mit wechselndem Druck, immer wieder innehaltend und prüfend, entlang einer nur ihm vorschwebenden Linie. Das braucht Mut, Krafteinsatz und ein feines Gespür zugleich. Eine klassisch anmutende «Vase» entsteht. Doch wir drängen darauf zu erfahren, wie er es zustande bringt, das Gefäss so auszuhöhlen, dass es zart und dünnwandig wird. Er greift zu einem selbst konstruierten Raffelzahn, er nennt ihn bitbulll. Holzkringel quellen aus der immer tiefer werdenden Höhlung und müssen bei jedem Durchgang mühsam herausgegrübelt werden. Wie schafft er es bloss, dass rundum eine gleichmässig dünne Wand entsteht? Er macht es vor: von verschiedenen Seiten das Instrument führen, nachmessen, mit einem ebenfalls selbstkonstruierten scherenartigen Instrument, dessen technische Perfektionierung, vielleicht mit Laser, in Gedanken entworfen, aber noch nicht entwickelt ist …
Was für ein Weg vom schrundigen Stamm zu den anmutigen Amphoren, Zylindern, Schalen – diesen Gebilden, die nichts Gewolltes an sich haben, sondern reine Form sind, von ursprünglicher, selbstverständlicher Schönheit. Die erdfarbenen Töne gemahnen an Tongefässe, aber die ‚Bemalung‘ ist nicht aufgetragen, sondern wird vom Material selber hervorgebracht. Die Linien und Flecken zeugen von der wilden, unregelmässigen Ordnung natürlicher Wachstumsprozesse, die durch die Eingriffe hervorgeholt werden.
Lebendiges Holz
Das macht wohl das Glück dieser Arbeit aus: sich beim «Drehen» führen lassen von dem, was in Sekundenbruchteilen aufscheint, die Maserungen entdecken und wagen, weiterzugehen und nicht zu erschrecken, wenn eine Störung im Holz zu einem Durchbruch führt. Gerade auch diese Löcher machen das Lebendige von aendus Gefässen aus. Die Bäume lebten ja mit Verletzungen, mit den Spuren von Pilzbefall, Insektenfrass, faulen Stellen. Beim Drechseln kommt das zum Vorschein und erweist sich als schön. Beulen werden zu einem «bird’s eye», Wanderwege von Pilzen zu grafischen Mustern, Frostjahre zeichnen sich ab als malerische «Riegel», Wunden werden von der Rinde bizarr «überwallt», Mineralienablagerungen verfärben sich rötlich. Der Fachmann braucht eigene, besondere Wörter, die uns genauer hinschauen lassen.
«Fehler» im Holz werden nicht weggeschliffen, im Gegenteil, sie machen den Reiz der Objekte aus und versöhnen uns mit dem Schicksal der Bäume – und mit unserer eigenen Machtlosigkeit, dass wir sie nicht vor der unserer masslosen Mobilitätsgier der Menschen schützen konnten.
Wie schön, dass uns Platane, Ahorn, Kastanie, verwandelt in Kunst, ihre verborgenen Schätze zeigen und uns mehr und anderes über ihr Leben als Baum erzählen, als was wir Analphabeten so zu stammeln wissen: Stamm, Ast, Blatt, Krone, wenn es hoch kommt Photosynthese oder Sauerstoffproduktion.