Geburtstag unter Bomben

von Dmitrij Gawrisch 28. Februar 2022

Meine Mutter wird heute 65 Jahre alt. Aber sie wird ihren Geburtstag heute nicht feiern. Weil sie in Kyjiw ist.

Vor genau einem Monat, am 27. Februar, war meine Mutter im bombardierten und belagerten Kyjiw 65 Jahre alt geworden. Wir standen per Whatsapp in Kontakt. Am Morgen des 8. März dann, Internationaler Frauentag, postete sie in unserem Familienchat ein Foto: Windschutzscheibe, Steuerrad des alten Chevrolets meiner Eltern. Es war ein nebliger Tag, grau, gelegentlich schneite es. Keine gute Sicht für russische Piloten – und damit für die Menschen am Boden bestmögliche Bedingungen, um aus dem Kriegsgebiet zu fliehen. Unterwegs schliefen meine Eltern in Wohnungen, die Freunde von Freunden ihnen vermittelten, auf Matratzen im Gastraum eines Restaurants, im Auto. Stundenlang standen sie vor Tankstellen an, um mal zehn, mal zwanzig Liter Benzin zu ergattern, während um sie herum Sirenen heulten und vor Luftangriffen warnten. Als sie schliesslich über die Grenze nach Ungarn rollten, empfand ich eine unendliche Erleichterung. Und merkte zugleich, als die Anspannung von mir abfiel, wie zermürbend die letzten Wochen gewesen sind.

Ich brauche eine Pause vom Krieg. Es ist ein himmelhohes Privileg, diesen Satz schreiben zu können. Auch das steht in der Ukraine derzeit auf dem Spiel: Selbstbestimmung, die Freiheit etwa, zu entscheiden, wie man seinen Sonntag verbringt. Falls auch Sie sich eine Verschnaufpause wünschen, möchte ich Ihnen drei meiner liebsten Geschichten aus «Reportagen» empfehlen, in denen keine Menschen zu Schaden kommen.

Auch ich verbringe den heutigen Morgen lesend. Danach gehe ich mit meinen Eltern zur Friedensdemo am Brandenburger Tor. Noch so ein Privileg, das vielerorts nicht selbstverständlich ist. (Nachtrag vom 27.3.2022)

Geburtstag unter Bomben

Meine Mutter wird heute 65 Jahre alt. Sie ist Abonnentin unseres Newsletters, liest jede Woche unseren Lesetipp, klinkt sie sich ab und an in unsere digitalen Veranstaltungen ein [die Rede ist von den Angeboten des Magazins Reportagen, Anm. d. Red.]

Aber im Gegensatz zu Ihnen wird sie diesen Text heute nicht lesen. Und auch ihren Geburtstag wird sie nicht feiern. Weil sie in Kyjiw ist. Und weil im Land, dessen Hauptstadt Kyjiw ist – im flächengrössten Land, das komplett in Europa liegt – gerade Krieg herrscht. Eigentlich wollte meine Mutter ihren Geburtstag in Istanbul verbringen. Sich einen Kurzurlaub gönnen nach einem schweren Verlauf der Pandemie. Am Donnerstag, in den frühen Morgenstunden, wollten sie und mein Vater fliegen. Stattdessen fielen Bomben auf den Flughafen und die Stadt.

Ich selbst lebe in Berlin. Davor war ich lange in Bern, weil meine Eltern dort die ersten Diplomaten der unabhängigen Ukraine waren. Die Ukraine ist der Ort meiner Kindheit, meiner ersten beiden Sprachen (Russisch und Ukrainisch, Deutsch kam erst dazu, als ich elf Jahre alt war), die Wurzel meines Lebens. Und so wie es Lachse oder Aale zurück an den Ort ihrer Geburt zieht, so hat auch die Ukraine mich nicht losgelassen, trotz einem langen Leben in der Schweiz und in Deutschland.

Es heisst, im Nachhinein sei man klüger. Ich fühle das Gegenteil, ich fühle mich so richtig dumm. Den monatelangen russischen Truppenaufmarsch rund um die Ukraine hatte ich für eine Pokerpartie gehalten, Casino Royale, all in. Eine Freundin aus Dortmund erzählte mir von ihrer Angst vor einem neuen Krieg in Europa, ich wischte per SMS ihre Sorgen beiseite: Krieg bringe Menschen um, schade der Wirtschaft, niemand sei so kurzsichtig. Das erste Mal spürte ich Panik, als ich an einem Samstag im Januar las, dass auf russischer Seite Blutkonserven an die ukrainische Grenze gebracht würden. Seltsamerweise empfand ich im ersten Moment Mitgefühl mit den russischen Soldaten: Diese Jungs, viele von ihnen wehrpflichtige Teenager, würden einen unendlich sinnlosen Tod sterben. Aber auch die Sorge deckelte ich schliesslich damit, dass Blutkonserven wahrscheinlich nötig sind, damit ein Bluff wie ein gutes Blatt wirkt. Um nicht in ständiger Angst leben zu müssen, redete ich mir alles Mögliche ein. Das taten meine Mutter und mein Vater in Kyjiw ebenso wie die meisten meiner Landsleute.

Als sich die Lage in den letzten Wochen verschärfte, gewöhnte ich mir an, jeden Morgen als Erstes die Nachrichten zu checken. Es war ein absurdes Ritual, auf der Kloschüssel zu sitzen und durch die Schlagzeilen und Liveticker zur «Ukraine-Krise» zu scrollen. Ich fürchtete, etwas zu verpassen. Aber auch das war ein Irrtum, einen Krieg verpasst man nicht, er kommt zu einem, er macht schon auf sich aufmerksam. Am frühen Morgen, als meine Eltern nach Istanbul fliegen wollten, hörte ich im Halbschlaf mein Handy vibrieren. «Der Krieg hat begonnen», schrieb meine Schwester, die in der Schweiz aufgewachsen ist und jetzt in Deutschland lebt, in unseren Familienchat. «Ja, das wissen wir schon», schrieb unsere Mutter zurück. Klar, sie hörte die Explosionen in der Nähe.

Meine Mutter spricht und schreibt die wohl schönste, treffendste, bildhafteste, auch beissendste russische Sprache, die ich kenne. Väterlicherseits stammt sie von einer altrussischen Kaufleute-Familie ab, die es noch unter dem Zaren zu etwas Wohlstand und Würden gebracht hatte. Vom Studium in Berlin und den Jahren in Bern abgesehen hat sie ihr Leben in Kyjiw verbracht. Entsprechend frei spricht sie auch Ukrainisch. Noch wenige Tage vor dem jüngsten russischen Überfall zitierte sie ihren Vater, dass die Russen schon Hirn genug hätten, keinen solchen Krieg zu beginnen.

Ihr Vater, mein Grossvater, ist 2016 an Krebs gestorben. Die russische Besetzung der Krim, die Entfesselung eines Krieges im Donbass erlebte er 2014 noch hautnah mit. Die sinnlose Gewalt, das masslose Leid, Tausende Tote, Hunderttausende Vertriebene, das ging ihm über den Verstand. Wozu das Ganze? Weil die Ukraine selbständig und unabhängig sein wollte? Weil sie in die EU wollte, um so endlich die Korruption in den Griff zu kriegen, wenigstens ein bisschen? Weil sie von einem Nato-Beitritt träumte, um vielleicht erstmals in ihrer langen Geschichte nicht den warmen Atem des «Grossen Bruders» im Nacken zu spüren? Die Ukraine hat nie jemanden angegriffen, die Ukraine hat nie jemanden bedroht. Höchstens ist ihre Existenz bedrohlich, weil sie beweist: Demokratie ist auch in einem der Zentren des einstigen Sowjetimperiums möglich. Eine Wahrheit, die ein Autokrat schnellstmöglich tilgen will. Koste es so viele Menschenleben, wie es wolle. Koste es auch so viele Leben der eigenen Landsleute.

Ich habe noch nie so viel Anteilnahme erlebt. Unzählige Nachrichten haben mich erreicht, ich komme mit dem Antworten kaum hinterher. Fassungslosigkeit über das, was geschieht. Sorge, in der Regel unbekannterweise, um meine Eltern, Verwandten und Freunde, die ich in der Ukraine habe. Ganz oft die Frage: Was können wir tun? (Solidarität zeigen, demonstrieren, die Politik zum Handeln zwingen, Geld für Medikamente überweisen, Flüchtende aufnehmen.) Mir wurden auch ganz konkrete Angebote gemacht: Unterkünfte, ganze Wohnungen, sie sollen nur kommen. Meine Schwester und ich haben unseren Eltern mehrfach angeboten, sich bei uns in Deutschland in Sicherheit zu bringen. Meine Mutter und mein Vater beschlossen, in der Ukraine zu bleiben, auszuharren. Auch sie wollten das Ganze für ein fieses Spiel halten, sie wollten ihre Jobs nicht verlieren, ihre Wohnung. Und sie wollten uns nicht zur Last fallen (immer diese Eltern mit ihrer falschen Rücksicht!). Jetzt können sie nicht mehr weg, jetzt müssen sie ausharren: Die Strassen Richtung Westen sind verstopft, vor den Tankstellen bilden sich lange Schlangen, Geld abheben geht auch nicht mehr richtig. Noch haben sie genug zu essen, noch haben sie Strom, noch haben ihre Handys Empfang. Sie schlafen angezogen, alarmbereit. Schreiben sie im Familienchat.

In meiner Verzweiflung schrieb ich am ersten Tag der Invasion alle Freunde an, die ich in Russland habe: Helft der Ukraine, geht protestieren, wenn ihr könnt. Fast alle meldeten sich zurück, schrieben, sie täten, was in ihrer Macht liege. Einige entschuldigten sich, ein Freund meinte, er schäme sich für sein Land. Der Zuspruch tat unendlich gut. Und auch die Bilder zu sehen von Russinnen und Russen, die in Moskau, in St. Petersburg, in Dutzenden anderer Städte blau-gelbe Fahnen schwenken und gegen einen Krieg demonstrieren, den ihr Land vom Zaun gebrochen hat. Die Ukraine ist also doch nicht ganz allein, Frieden und Demokratie haben Verbündete im Land des Aggressors. Zugleich war und bleibe ich wütend: Die ganz harten Sanktionen, die der Westen im Fall eines Angriffs auf die Ukraine angekündigt hat, solche, die wirklich wehtun, sind bisher ausgeblieben. Ist es Angst vor einer weiteren Eskalation? Angst vor Wohlstandsverlust? Beschämt hat mich auch das Verhalten der offiziellen Schweiz: Mein Geburtsland wird angegriffen, und mein Heimatland macht nicht einmal bei den milden Sanktionen mit. Rechtfertigt Neutralität selbst Verstösse gegen das Völkerrecht, den Tod unschuldiger Zivilisten?

Was ich mir wünsche: dass die Verantwortlichen für diesen Überfall bald zur Rechenschaft gezogen werden. Natürlich stellt sich der aufgeklärte Demokrat in mir all diese in die Jahre gekommenen, von Macht und wer weiss was noch allem entstellten Gesichter auf einer Anklagebank vor dem Strafgerichtshof in Den Haag vor. Zugleich male ich mir aus, wie die russische Bevölkerung selbst über diejenigen richtet, die sie tagein und tagaus systematisch belügen und betrügen, die ihr seit über zwei Jahrzehnten Redefreiheit, Demokratie und Wohlstand vorenthalten, die den sinnlosen Tod Tausender und Abertausender zu verantworten haben überall auf der Welt. Ich schäme mich für diese Gewaltphantasien. Und gleichzeitig geben sie mir die Kraft, diese ungewissen Stunden, die vielleicht düstersten Stunden meines Lebens zu ertragen.

Ich werde gleich versuchen, meine Mutter zu erreichen, wenigstens kurz mit ihr zu sprechen und ihr zum Geburtstag zu gratulieren. In drei Tagen habe ich selbst Geburtstag. Ich möchte mir nicht vorstellen, nach 40 Jahren erstmals nichts von ihr, nichts von meinem Vater zu hören. Aber ich stelle es mir vor, diesmal will ich vorbereitet sein, darauf, dass das ukrainische Handynetz nicht mehr funktioniert, dass die Akkus ihrer Telefone leer sind, dass ihnen etwas geschehen sein könnte. Mir gibt es Mut, dass ich nicht allein bin. Und gleichzeitig macht es mir Angst: Ich bin ein einzelner Mensch, der hier eine einzelne Geschichte erzählt. Wie viel Leid gibt es noch da draussen, wie viel Leid entsteht da draussen, während ich, in Sicherheit, diese Zeilen schreibe und Sie, vermutlich ebenfalls nicht akut bedroht, sie lesen? Helfen Geschichten? Zweifellos. Aber Geschichten allein reichen manchmal nicht aus.

Dieser Beitrag erschien zuerst beim Magazin Reportagen (Newsletter des 27.2.22 und 27.3.22).