Die Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen mussten viel erdulden. Als besonders verletzend haben manche die Ignoranz empfunden. Dass wegschaute, wer hätte hinsehen können und müssen. Oder dass das Unrecht formalisiert wurde, so lange, bis es nicht mehr Unrecht war, sondern der Vollzug vorbestimmter, oder besser: vorgedruckter Massnahmen. Ein liederliches Mädchen, das gehört eingesperrt, so wollte es die öffentliche Moral dieser Jahre.
Ohne die Generation unserer Eltern entschuldigen zu wollen: Im realpolitischen Alltag der Fünfziger- und Sechzigerjahre war das Elend der Verding- und Heimkinder der Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer kaum präsent. Die Höfe lagen abseits, in denen Buben in Schweineställen schlafen mussten, die Anstalten, die Mädchen tagelang in Isolationshaft hielten, waren geschlossene Welten, von denen die Menschen draussen wenig wussten. Es ist bezeichnend, dass eine der wenigen kritischen Stimmen zum damaligen Jugendstrafvollzug ausgerechnet von der Boulevardzeitung «Blick» kam, nachdem im September 1970 neun Mädchen aus der Arbeitserziehungsanstalt Kalchrain im Kanton Thurgau ausgebrochen waren – unter ihnen Erna Eugster. Für die bürgerliche Presse waren solche Ereignisse allenfalls Revolvergeschichten unter der Rubrik Vermischte Meldungen.
Ich habe, bis ich 16 war, nie etwas von gleichaltrigen Jugendlichen gehört, die in Heimen, Anstalten oder auf Bauernhöfen geschlagen wurden. Ich hatte, wie wir sagten, Zigeunerkinder gesehen, draussen auf der Allmend. Mit denen, sagte man uns, sollten wir uns besser nicht einlassen. Sie seien halt anders.
Das änderte sich, als ich hier gleich gegenüber im «Pyréenées» zu verkehren begann, dem damals einzigen Treffpunkt des anderen Bern, Heimat für Heimatlose und gefallene Engel. Dort habe ich Leute getroffen, die mir von den Schlägen erzählten und vom grausamen Drill der Erziehungsanstalten. Manchmal waren sie dann plötzlich, buchstäblich vom einen Tag zum andern, wieder weg, auf Kurve, oder, schlimmer: wieder reingenommen. Das war die Zeit, 1968 und die Jahre danach, in der Erna Eugster mehr als einmal im Berner Amtshaus in Schutzhaft war. Ja, so nannte man das, Schutzhaft, wenn man nicht wusste, was mit einer jungen Frau machen, die daheim jede Menge Probleme hat und aus jedem Heim ausbricht, in das man sie steckt.
Wir haben damals gelernt, dass das schöne reiche Land, in das wir, gut behütet, hineingewachsen sind, dass dieses Land Geschichten hat, die man uns, oft wider besseres Wissen, nicht erzählt hat: Die Geschichte von den Tausenden von Menschen auf der Flucht, die im Krieg an der Grenze zurückgewiesen wurden, und die Geschichte von den Verding- und Heimkindern, von den willkürlich Versorgten. Wir haben demonstriert gegen Prügelheime und Jugendgefängnisse, die Härdlütli führten vor dem Rathaus ein Strassentheater auf, in dem der «Tessenberg» lustvoll niedergerissen wurde, mit dem Grossen Rat – damals, 1971, noch ausschliesslich Männer – als Publikum. Aber wie das wirklich war, diesem Unrechtssystem ausgesetzt zu sein, wie das war: ständig diese Angst, dieser Schmerz, diese ewig betrogene Sehnsucht – wir hatten keine Ahnung. Wir haben noch immer keine Ahnung. Wir haben keine Ahnung, was da vorgeht, wenn Erna Eugster erzählt, wie sie nachts in der Wohnung auf- und abgeht und zur blinkenden Verkehrsampel vorne an der Kreuzung schaut, bis es Grün wird und sie schlafen kann. Aber wir wissen mehr und verstehen darum auch besser, was geschehen ist. Erna Eugster und ich haben den gleichen Jahrgang, 1952. Dass wir hier ihre Geschichte erzählen – eine andere Biografie meiner Generation – hat für mich deshalb auch einen ganz persönlichen Hintergrund. Es ist eine dieser Geschichten, die nicht vergessen gehen dürfen, damit sie nicht wieder passieren können.
Die Schweiz zeigte sich lernfähig. Was den Opfern der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen, zumeist jungen Menschen, über lange Zeit angetan wurde, wird aufgearbeitet. Dafür brauchte es allerdings den Druck der Betroffenen, auch ihren Mut, öffentlich hinzustehen. Es begann 2013 mit einem Runden Tisch mit Betroffenen und Beteiligten und der Lancierung der Wiedergutmachungs-Initiative. Unterdessen ist ein Bundesgesetz in Kraft, welches das geschehene Unrecht anerkennt. Mit einem Solidaritätsbeitrag soll gegenüber den Opfern ein Zeichen gesetzt werden. Ihre Ansprüche müssen sie bis Ende März melden. Weil die Zahl der Meldungen noch etwas geringer ist, als zuerst angenommen, gab es bereits Stimmen, welche die effektive Zahl der Opfer der Zwangsmassnahmen anzweifeln. Es waren offenbar doch nicht so viele, wie immer behauptet wird, sagen sie. Das ist nicht nur respektlos gegenüber den Opfern, es ist ekelhaft reaktionär in der politischen Gesinnung.
Dagegen muss man anhalten. So verstehen wir auch unsere Ausstellung. Ein paar Kartonwände, ein paar Bilder und Schrifttafeln und eine blinkende Ampel, das ist nicht viel. Aber vielleicht doch genug, um darüber nachzudenken, wie wir in diesem Land miteinander umgehen. Für das Kornhausforum ist es bereits die zweite Ausstellung zum Thema: 2015 dokumentierten wir auf der Galerie erstmals öffentlich Akten aus dem Berner Stadtarchiv zu Fremdplatzierungen.
Erna Eugster und Christian Grogg entwickelten das Projekt über längere Zeit, es war zuerst Teil eines grösseren Kunstprojekts mit mehreren Beteiligten. Christian Grogg legte grossen Wert darauf, dass wir von einem Nachbau einer Zelle im Amtshaus sprechen. Was hier steht, ist kein originalgetreues Abbild, sondern eine der damaligen Situation nachempfundene Installation. Mehr können Heutige, die damals nicht dabei waren, gar nicht machen. Das ist auch nicht nötig. Der Satz von Erna Eugster, dass sie in der engen Zelle Kilometer um Kilometer rauf- und runtergegangen sei, kommt auf einmal ganz anders herüber, wenn man drinnen in der Kiste steht. Als ich gestern zum ersten Mal hineingegangen bin, war mir plötzlich kalt und ich wollte schnell wieder raus.