«Für unsere und eure Freiheit»

von Christophe von Werdt 8. März 2022

Vielleicht wäre es angemessen, der Sprachlosigkeit Raum zu lassen. Der abgründigen Sprachlosigkeit darüber, was seit der Unheil ankündenden Rede des Kremlherrn vom 21. Februar seinen Lauf zu nehmen scheint…

Wer seit über 30 Jahren das wechselvolle, von vielen Lichtblicken durchzogene Schicksal der unabhängigen Ukraine verfolgt, viele Male bezaubernde europäische Städte wie Kiew oder Lemberg besucht hat, wer nun aber den humanitären Abgrund vor Augen hat, in den die Ukraine wegen eines zynischen, lügenden Machtpolitikers und Regimes immer weiter abzustürzen droht, dem verschlägt es eigentlich die Sprache. Aber wir sind den Menschen in der Ukraine mehr schuldig. Schweigen macht Freiheit unmöglich. Der Refrain der ukrainischen Nationalhymne ist leider traurige Wirklichkeit geworden – und nicht mehr nur wohlfeiler Pathos: «Leib und Seele geben wir für unsere Freiheit».

«Für unsere und eure Freiheit.» Dieser Appell ertönt seit bald 200 Jahren immer wieder in der Geschichte Europas. Erstmals belegt ist er für den polnischen November-Aufstand des Jahres 1830/31. Die Aufständischen versuchten mit diesen Flaggenaufschriften die russischen Soldaten davon zu überzeugen, dass der polnische Kampf mit dem Zarismus auch der Freiheit der Russen gelte. Der jüdische Widerstand im Warschauer Getto richtete sich mit diesem Aufruf an die polnische Nachbarbevölkerung. Und nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen in die Tschechoslowakei 1968 wurde «Für eure und unsere Freiheit» zu einem Leitspruch der Dissidentenbewegung in der Sowjetunion.

Der Aggressionskrieg des russischen Unrechtsregimes gegen die Bürgerinnen und Bürger der Ukraine und gegen deren unabhängigen Staat fügt dem «Für unsere und eure Freiheit» vor unseren Augen ein traurig-niederschmetterndes Kapitel hinzu.

Die Menschen in der Ukraine kämpfen in diesen Tagen erneut mutig für die eigene Freiheit. Zum vierten Mal in weniger als 20 Jahren! Sie taten es 2004 während der Orangen Revolution, als sie sich mit Erfolg gegen eine gefälschte Präsidentenwahl wehrten. Erneut warfen sie 2014/15 auf dem Майдан Незалежності, auf dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew, und im ganzen Land während einer «Revolution der Würde» ihre Leben in die Waagschale: Sie wollten das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union und ihr Land aus den Fängen eines russlandhörigen Präsidenten retten. Seither führen sie im Südosten des Landes einen Krieg gegen von Russland inszenierte «Volksrepubliken». Und nun der russische Aggressionskrieg mit Ankündigung, der in einem Akt nicht überbietbaren Zynismus‘ und der Propaganda, die die Wahrheit verdreht, als humanitäre militärische Operation der «De-Nazifizierung» und «De-Militarisierung» der Ukraine zwecks Verhinderung eines «Genozids» maskiert wird.

«Für unsere und eure Freiheit»: Die Ukraine setzt sich mit ihrem Kampf indirekt auch für die Freiheit in Russland ein. Denn obsiegt der mafiöse Machtapparat um den ehemaligen Geheimdienst-Oberstleutnant über die unabhängige Ukraine, wird die russische Gesellschaft endgültig in der eisernen ideologischen und polizeistaatlichen Umklammerung einer Diktatur versinken. Auch dies spielt sich vor unseren Augen ab. – Ausser es komme zur Revolution auf der Strasse oder einem Putsch des inneren Machtzirkels. Eine gelingende freiheitliche Ukraine, eine Gesellschaft der Würde, ist für den russischen Präsidenten und seine Entourage eine unmittelbare Bedrohung, ein Schreckgespenst, ein Gegenmodell zu seiner Autokratie. Dies erklärt seine revanchistische Aggressivität.

Die Ukrainerinnen und Ukrainer leiden auch für unsere Freiheit – das heisst: für uns von der jüngsten Geschichte verschonte Europäerinnen und Europäer. Denn ein siegreicher, revanchistischer und aggressiv-nationalistischer russischer Machtstaat wird nicht einfach zur partnerschaftlichen Friedensinsel werden, wenn er sich die Ukraine oder Teile davon einverleibt hat. Der Herr im Kreml sieht die Ukraine nur als – wenn auch zentrales – Element in einem «gefährlichen geopolitischen Spiel» des «sogenannt zivilisierten kollektiven Westens», wie er ihn nennt und wie er ihn zutiefst verabscheut. Für ihn ist die Ukraine Teil eines westlichen «‘Anti-Russland‘-Projekts», und er droht unverhohlen mit nie gesehenen Konsequenzen, wenn man sich ihm widersetzt bei der Wiederherstellung der imaginierten historischen Grösse des imperialen Russland – eines Imperiums, unter dem nicht zuletzt die Russinnen und Russen seit Jahrhunderten schwer tragen.

Verteidiger der Ideologie eines imperialen russischen Sicherheitsanspruchs gegenüber dem Westen übernehmen unreflektiert eine Sicht auf die Ukraine, die gerade das Wesentliche und Besondere dieses Landes ausblendet. Die Ukraine war nicht «immer schon Teil Russlands», und Kiew ist auch nicht die «Mutter aller russischen Städte», Russen und Ukrainer sind mitnichten «ein Volk» – wie auch bei uns einige die Propaganda aus dem Kreml wenig informiert wiederholen. Es ist komplizierter und dadurch auch bereichernder. Als kulturell-religiöses «Grenzland» schlägt gerade die «Ukraine» historisch und menschlich eine Brücke zwischen den verschiedenen Teilen Europas – zu dem auch Russland gehört. Die ukrainische Gesellschaft ist wohl unter anderem vor dem Hintergrund dieser historisch vielgestaltigen Erfahrung eine der tolerantesten in Europa, immer noch, trotz dem Krieg im Südosten: Populisten und Extremisten geniessen in der ukrainischen Gesellschaft viel weniger politischen Rückhalt als in anderen Ländern Europas. Diesen Brückenpfeiler Europas scheint der Diktator in Moskau nun definitiv demolieren zu wollen.

«Systematische Furcht macht Freiheit unmöglich», hat die jüdisch-lettische Philosophin Judith N. Shklar geschrieben («Liberalismus der Furcht»). Diese Feststellung gilt heute in unterschiedlicher Ausprägung für uns alle: Nur wer nicht in Furcht leben muss, kann frei sein.

Die Menschen der Ukraine erfahren diese Gewissheit, dass Furcht Freiheit unmöglich macht, gerade in einer Form, die ihre Leben und Lebensentwürfe sowie ihre Städte und Dörfer zerstört. Es ist ein Abgrund, der sich immer mehr aufzutun scheint, trotz der bewundernswerten Gegenwehr. Das beklemmende Gefühl der Furcht verspüren wir im Moment auch hier in der Schweiz. So mutig wie Ukrainerinnen und Ukrainer für ihr Land der Furcht die Stirn bieten, kämpfen sie nicht nur für ihre eigene Freiheit, sondern auch für uns. Dafür stehen wir in ihrer Schuld und empfinden auch Scham angesichts der eigenen Hilflosigkeit, weil wir uns nicht in einen Krieg mit unabsehbaren Folgen hineinziehen lassen wollen. Die Menschen der Ukraine haben unsere Solidarität sowie unsere Unterstützung verdient. Auch dann, wenn der Krieg von den Bildschirmen verschwunden sein wird.

Es sind «ukrainische Lektionen» (Karl Schlögel), die wir gerade erteilt erhalten.

Möge den Ukrainerinnen und Ukrainern ihre und damit auch unsere Freiheit endlich gelingen! Vielleicht stimmen wir still ein, wenn am Ende von Beethovens 9. Symphonie Friedrich Schillers «Ode an die Freude» erklingt, die Leonard Bernstein an einem früheren epochalen Wendepunkt der Freude, 1989, mit sicherem Gespür zur «Ode an die Freiheit» umbenannt hat:

«Laufet, Brüder, eure Bahn
Freudig wie ein Held zum Siegen.
Wie ein Held zum Siegen
Laufet, Brüder, eure Bahn.»