Für Freiheit kämpfen macht stark

von Basrie Sakiri-Murati 22. November 2022

Im Iran kämpfen Schülerinnen und Studenten auf der Strasse für ihre Freiheit. Unsere Kolumnistin kann ihre Wut nachvollziehen und erzählt in Schweizer Schulen von ihrem eigenen Kampf im Kosovo.

Seit drei Jahren werde ich regelmässig eingeladen, im Geschichtsunterricht der Rudolf-Steiner-Schule aus meinem Buch («Bleibende Spuren», rotpunkt Verlag) vorzulesen. Obwohl ich seit mehr als 33 Jahren in einem friedlichen und demokratischen Land lebe, begleiten mich auf dem Weg zur Schule immer Erinnerungen an eine Zeit voller Unsicherheit und Angst. Es war die Zeit, als meine Heimat Kosovo von Serbien besetzt war, als Militär, Paramilitär und Panzer das Land beherrschten.

Ich beginne zu schildern, wie es war – damals, als ich in ihrem Alter war. Und es wird ganz still.

Wenn ich dann erzähle, trete ich mit meiner Geschichte in die sorglos friedliche Welt der Berner Kinder ein. Ich beginne zu schildern, wie es war – damals, als ich in ihrem Alter war. Und es wird ganz still. Die Gesichter der jungen Schüler*innen werden ernst. Ich fühle Anteilnahme und Solidarität.

Die Schüler*innen wissen aus dem Geschichtsunterricht meist ziemlich gut Bescheid über die damalige Situation in Kosovo. Und doch, wenn ich aus meinem Buch vorlese, wenn ich erzähle von den blutigen Aufständen, von den Opfern, die viele Generationen von Albaner*innen brachten, von der langen serbischen Herrschaft über mein Volk, dann weiss ich nicht, ob sie wirklich empfinden, wie sich Unterdrückung anfühlt.

Aber sie können ihr Staunen nicht verbergen, wenn ich ihnen erzähle, wie wir – hauptsächlich Schüler*innen und Studierende – vor der streng bewaffneten Polizei, ja sogar vor den Panzern demonstrierten. Dass es unter den Demonstrant*innen Verhaftete, Verletzte und auch Tote gab, unter anderem enge Freunde von mir. Unvorstellbar ist für sie wohl auch, dass viele von uns verfolgt und mit hohen Gefängnisstrafen oder mit dem Tod bedroht wurden. Und dass wir deshalb untertauchen mussten. Und: Wie schwer das Leben im Untergrund war, in den Wäldern bei Temperaturen unter der Nullgradgrenze.

Journal B unterstützen

Unabhängiger Journalismus kostet. Deshalb brauchen wir dich. Werde jetzt Mitglied oder spende.

Es berührt mich, dass sich Berner Jugendliche für die Geschichte des Kosovos interessieren. Ich möchte aber auch wissen, ob sie die Gegenwart kennen. Dies vor allem, weil in der Schweiz so viele junge Albaner*innen leben. Wenn die Schweizer Schüler*innen mehr über deren Familiengeschichte wüssten, könnten sie vielleicht besser verstehen, warum einige von ihnen Probleme machen.

Albaner*innen in der Schweiz fühlen sich mit ihren Verwandten im Kosovo stark verbunden. Auch wer hier geboren wurde, hat mit grosser Wahrscheinlichkeit Angehörige, die im Krieg gelitten haben oder gefallen sind. In vielen Familien setzt sich dieses Leiden fort. Es ist eine Tatsache, dass im Kosovo noch heute mehr als 1600 Zivilpersonen vermisst werden, ihr Schicksal kennt niemand. Mütter haben Söhne und Töchter verloren. Ehemänner sind verschwunden. Eine Frau, Ferdonije Qerkezi., aus der Stadt Gjakova, wartet seit 23 Jahren auf Nachrichten von ihren vier Söhnen und ihrem Ehemann.

Über 20’000 albanische Frauen sind von serbischen Militär- und Paramilitärangehörigen vergewaltigt worden. Sie leben immer noch mit den Folgen dieser Verbrechen, und das in einem patriarchalischen Land, wie es der Kosovo leider immer noch ist. Einige der Betroffenen haben Verwandte in der Schweiz, die auch unter Kriegstraumata leiden und deshalb in psychiatrischer Behandlung sind.

Die Jugendlichen in der Rudolf-Steiner-Schule stellen mir viele Fragen. Ich versuche zu erklären: Zum Beispiel, wie schwierig und gefährlich es war, als Frau gegen die serbische Regierung auf die Strasse zu gehen. Eine junge Frau in Kosovo hatte zu dieser Zeit ja fast keine Rechte, durfte kaum alleine aus dem Haus. Trotzdem fanden die Frauen den Mut, für Freiheit zu kämpfen – voller Elan und Euphorie und mit starker Stimme. Warum? Weil wir optimistisch waren, weil wir unabhängig sein wollten und von einem besseren Alltag träumten. Und wir haben es erreicht. Darauf bin ich stolz.